Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner (Foto) gab der âBörsen-Zeitung“ (Samstag-Ausgabe) und âboersen-zeitung.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Andreas Heitker, Mark Schrörs und Angela Wefers:
Frage: Herr Lindner, Sie sind ein Jahr im Amt. Welche Bilanz ziehen Sie?
Lindner: Es war ein extrem dichtes Jahr. Es fĂŒhlt sich lĂ€nger an, weil es so viele Ereignisse gab. Deutschland ist bislang gut durch die herausfordernde Situation verschachtelter Krisen gekommen. Das hat allerdings auch viel Kraft und Aufmerksamkeit gekostet.
Frage: Und wie gut kommen wir weiter durch â mit Blick auf die wirtschaftliche Lage?
Lindner: Wir sind in einer Situation der Unsicherheit. Vieles können wir nicht selbst beeinflussen. Dennoch gibt es Grund fĂŒr vorsichtigen Optimismus, da die Trends bei der wirtschaftlichen Entwicklung wie bei der Inflation auf eine Stabilisierung hindeuten.
Frage: Kommen wir vielleicht sogar an einer Rezession vorbei, wie nun einige Ăkonomen hoffen?
Lindner: Wir haben es in der Hand, die gute Entwicklung weiter zu verstĂ€rken. Wir dĂŒrfen Unternehmen nicht durch zusĂ€tzliche BĂŒrokratie oder finanzielle Forderungen belasten. Im Gegenteil, wir mĂŒssen zur InvestitionstĂ€tigkeit ermuntern und sie beschleunigen. Wir brauchen ein Wachstumspaket, das nicht auf Staatsausgaben setzt, sondern auf angebotsseitige MaĂnahmen. Denn klar ist, dass auf die Zeit der Hilfen und Preisbremsen die RĂŒckkehr zu stabilitĂ€tsorientierter Fiskalpolitik folgen muss.
Frage: Der deutsche Abwehrschirm soll stabilisieren, zieht aber auch kritische Stimmen sogar aus dem EZB-Rat zur Rolle der Fiskalpolitik auf sich. FĂŒhlen Sie sich als Inflationstreiber?
Lindner: Wir haben die Strom- und Gaspreisbremse so ausgestaltet, dass starke Anreize bleiben, Energie einzusparen. Trotz des groĂen Volumens wirkt der Abwehrschirm eher dĂ€mpfend auf die Inflation, weil die Gas- und Strompreise sinken.
Frage: Aber die Ersparnisse können konsumiert werden. Befeuert dieser Faktor nicht perÂspektivisch die Inflation?
Lindner: Davon gehen wir nicht aus. Wir geben keinen Nachfrageimpuls, aber wir erhalten die Kaufkraft. Ich halte das fĂŒr wichtig, denn die Bedeutung des Binnenkonsums fĂŒr unser Konjunkturklima wird gelegentlich aufgrund unserer Exportorientierung unterschĂ€tzt.
Frage: Wird der Energieverbrauch dadurch im erforderlichen Umfang sinken?
Lindner: Die Preisbremsen sind fĂŒr Betriebe und private Haushalte anreizkompatibel. Die deutsche Industrie hat schon mehr als ein FĂŒnftel ihres Gasverbrauchs eingespart, ohne schmerzhafte ProduktionsrĂŒckgĂ€nge. Sie hat Effizienzreserven gehoben.
Frage: Sind die Unternehmen in der Lage, mit der Entwicklung dauerhaft umzugehen, oder droht die Deindustrialisierung Deutschlands, wie so mancher warnt?
Lindner: Die WettbewerbsfĂ€higkeit Deutschlands verschlechtert sich. Daraus wĂŒrde aber nur eine Deindustrialisierung folgen, wenn wir nicht handeln. Das mĂŒssen wir.
Frage: Was bedeutet das konkret?
Lindner: Auf die sicherheitspolitische Zeitenwende haben wir geantwortet. Jetzt brauchen wir dieselbe Entschlossenheit bei der ökonomischen Zeitenwende.
Frage: Was meinen Sie mit ökonomischer Zeitenwende?
Lindner: Die Phase gĂŒnstiger Energieimporte ist beendet. Der Welthandel verĂ€ndert sich, die Lieferketten auch. Wachstum in China bleibt aus, und wir sehen die enorme Bedeutung des chinesischen Markts ohnehin kritischer. Enorme Investitionen in saubere Technologien zur dekarbonisierten Wertschöpfung sind erforderlich. Der demografische Wandel verĂ€ndert den Arbeitsmarkt und fordert öffentliche Kassen. Zugleich endet auch die Ăra, in der es Wachstumsdividenden gab und sich der Bundeshaushalt durch einen sinkenden Kapitaldienst von allein entschuldet hat. Stattdessen haben wir Inflation. Das ist eine ökonomische Zeitenwende.
Frage: Wie will die Regierung die Wirtschaft bei der Transformation unterstĂŒtzen?
Lindner: Die deutsche Wirtschaft ist sehr beweglich und anpassungsfĂ€hig. Das mĂŒssen wir erhalten. Sprich: steuerliche Investitionsanreize, Förderung von Erfinder- und GrĂŒndergeist, StĂ€rkung von Eigeninitiative. Vor allem aber ZurĂŒckhaltung bei Interventionen, bĂŒrokratischen Fesseln und Verbotsideen.
Frage: Haben Sie noch mehr zu bieten als ZurĂŒckhaltung?
Lindner: Sie klingen spöttisch, aber ich halte den Verzicht auf neue Belastungen schon fĂŒr einen wichtigen Baustein. DarĂŒber hinaus brauchen wir schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren fĂŒr möglichst alle öffentlichen und privaten Vorhaben. Hier rechne ich mit Gesetzgebung im ersten Halbjahr 2023. Wir mĂŒssen die Gewinnung von FachkrĂ€ften durch ein modernes Management von Einwanderung verbessern. Statt Konsumausgaben sollten wir Ausgaben fĂŒr Bildung und Forschung erhöhen. Wir mĂŒssen die Energieversorgung sicher und bezahlbar gestalten. Darunter fasse ich auch die heimischen Ăl- und Gasvorkommen und die erneuerbaren Freiheitsenergien. Wir mĂŒssen sie ausbauen und den Energieimport von allen Farben des Wasserstoffs, synthetischen Kraftstoffen und vor allem von FlĂŒssiggas ermöglichen.
Frage: Wie sieht es mit fiskalischen Instrumenten aus?
Lindner: NatĂŒrlich kann auch die Steuerpolitik dazu beitragen, die StandortqualitĂ€t zu stĂ€rken. Zuletzt sind wir bei staatlicher Förderung: Sie könnte europĂ€isch agiler und schneller sein. Das Volumen der EU-Programme kann sich schon jetzt dem Vergleich mit den USA stellen.
Frage: âFreiheitsenergie“ bedeutet auch Fracking?
Lindner: Ja, die heimischen Ăl- und Gasvorkommen tragen zur UnabhĂ€ngigkeit bei und reduzieren das Preisniveau. Wir haben uns diesem unbequemen Thema lang nicht stellen wollen, weil wir sehr gĂŒnstig von den WeltmĂ€rkten versorgt wurden. Die Expertenkommission des Bundestags hat 2021 festgestellt, dass Fracking in Deutschland keine unverantwortlichen Risiken birgt. Wir sollten den Mut haben, aus dem Expertenurteil die Konsequenzen zu ziehen, um Fracking in Deutschland rechtlich möglich zu machen. Privatunternehmen werden dann entscheiden, ob sie hier einen Markt sehen.
Frage: Steuern sind ein Standortfaktor. Sie haben âSuperabschreibungen“ angekĂŒndigt â wann kommen sie?
Lindner: Abschreibungen sind ein starkes Tool, um Investitionen zu beschleunigen. Hier haben wir schon einiges erreicht, denken Sie an die 3 % Abschreibung bei Immobilien beziehungsweise sogar 5 % fĂŒr besonders förderungswĂŒrdige Objekte. Den Zeitpunkt fĂŒr neue Abschreibungen werde ich nennen, wenn sie kommen. Denn ich möchte keine InvestitionszurĂŒckhaltung aus GrĂŒnden der Steueroptimierung provozieren.
Frage: Könnte es sein, dass die Superabschreibungen wegen der konjunkturellen Belebung am Ende gar nicht mehr kommen?
Lindner: Mit dem geplanten Instrument wollen wir auch privates Kapital fĂŒr die Transformation mobilisieren. Deren Bedeutung und Dimension ist unabhĂ€ngig vom Konjunkturzyklus. Ich setze lieber auf den starken Anreiz einer Abschreibung als auf neue Subventionsprogramme.
Frage: Können die Unternehmen auch auf die ersehnte strukturelle Unternehmenssteuerreform hoffen?
Lindner: DafĂŒr gab es in den vergangenen Jahren keine parlamentarische Mehrheit. Das hat sich bisher nicht grundlegend verĂ€ndert. Allerdings Ă€ndert sich nun die Lage. Erstens gewinnt im Mix der Standortfaktoren die Unternehmensbesteuerung an Gewicht, wenn die gĂŒnstigen Energieimporte wegfallen. Zweitens endet mit der EinfĂŒhrung der globalen effektiven Mindeststeuer mögliches Steuerdumping. Das erlaubt manchen vielleicht zu erkennen, dass die Betriebe in Deutschland mit gut 30 % effektiver Belastung im internationalen Vergleich stark in Anspruch genommen werden.
Frage: Ihre Koalitionspartner und der SachverstÀndigenrat favorisieren aktuell aber eher Steuererhöhungen.
Lindner: Das wĂ€re falsch angesichts der privaten Investitionsbedarfe, der ohnehin schon hohen Belastung und drohender wirtschaftlicher AbkĂŒhlung. Das Ifo-Institut hat daher in einer Umfrage gezeigt, dass eine Mehrheit der Wirtschaftswissenschaft einen Energiesoli und einen höheren Spitzensteuersatz ablehnt.
Frage: Also keine Steuererhöhungen?
Lindner: Steuererhöhungen wird es mit mir als Finanzminister nicht geben. TatsĂ€chlich haben wir die Steuerlast reduziert â mit der DĂ€mpfung der kalten Progression, ĂŒber Abschreibungen, ĂŒber höhere Pauschalen, bis hin zu der Bereitschaft, die FreibetrĂ€ge bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu erhöhen. Politisch umstritten ist: Gelingen uns weiter gehende Entlastungen ĂŒber den Tarif? DarĂŒber mĂŒssen wir diskutieren. Der Bundesfinanzminister beginnt sicher nicht mit einer Parlamentsmehrheit fĂŒr solche Gedanken, sondern mit einer dagegen.
Frage: Steuerentlastung bedeutet weniger Einnahmen. Wie wollen Sie dann den Haushalt 2024 unter Einhaltung der Schuldenbremse aufstellen?
Lindner: Ein verĂ€nderter Steuertarif fĂŒhrt bei Wachstum nicht zwingend zu weniger Staatseinnahmen. Wachstumsdynamik ist fĂŒr die TragfĂ€higkeit der Staatsfinanzen immer von Vorteil.
Frage: Sie können 2024 aber auch weniger RĂŒcklagen als 2023 einsetzen.
Lindner: Ja, und das war geplant. Die RĂŒcklagen will ich abbauen, weil auch dies die Haushaltstransparenz erhöht. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen ist angesichts der gestiegenen Zinsen zwingend.
Frage: Dann wird an der Schuldenbremse nicht gerĂŒttelt?
Lindner: Im kommenden Jahr kehren wir beim Bundeshaushalt bereits zur Schuldenbremse zurĂŒck, weil ich die krisenbedingten Mehrausgaben im Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds etatisiert habe. TatsĂ€chlich haben wir ein gewaltiges Staatsdefizit, aber fĂŒr die regulĂ€ren politischen Vorhaben der Koalition gibt bereits wieder Haushaltsdisziplin. Die Strategie darf man kritisieren, aber ich habe gute GrĂŒnde dafĂŒr.
Frage: Was bedeutet das fĂŒr 2024?
Lindner: Die SpielrĂ€ume sind eng. Zugleich mĂŒssen wir Mittel verstĂ€rken, zum Beispiel bei der Bundeswehr und der MobilitĂ€t. Das werden also herausfordernde GesprĂ€che mit den Kolleginnen und Kollegen im Kabinett.
Frage: Das Bundesverfassungsgericht wird ĂŒber 60 Milliarden Euro KreditermĂ€chtigungen im Klima- und Transformationsfonds urteilen. Bereiten Sie sich auf Fesseln in der Haushaltspolitik vor?
Lindner: Wir warten das Urteil ab. Die angegriffene Buchung im zweiten Nachtragshaushalt 2021 war gewiss nicht mein Lieblingsprojekt. Es war ein Kompromiss wÀhrend der Koalitionsverhandlungen, der von meinem VorgÀnger konzipiert wurde. Ich habe ihn in verfassungsrechtlich verantwortbarer Weise umgesetzt.
Frage: Jenseits der Frage der politischen Verantwortung â wie sieht es inhaltlich aus?
Lindner: Es gibt einen klaren Veranlassungszusammenhang, weil die Mittel zur Finanzierung von in der Pandemie ausgefallenen MaĂnahmen eingesetzt werden. Es gibt einen prĂ€zisen Wirtschaftsplan, und der Bundestag ist beteiligt. Das Gericht befasst sich aber erstmals in einem prominenten Fall mit der Schuldenbremse. Ich erhoffe mir also, dass unser Handeln bestĂ€tigt wird, es aber zusĂ€tzliche Richtungsweisungen fĂŒr die Anwendung der Schuldenbremse gibt.
Frage: Zu den europĂ€ischen Fiskalregeln im StabilitĂ€ts- und Wachstumspakt hat die EU-Kommission ihre Vorstellungen auf den Tisch gelegt. Vom deutschen Non-Paper aus dem Sommer ist nicht viel ĂŒbrig geblieben. Stören Sie vor allem die bilateral ausgehandelten AusgabenplĂ€ne?
Lindner: Unsere Position ist unverĂ€ndert. Wir brauchen multilaterale Regeln als Grundlage der Fiskalpolitik, nicht noch mehr bilaterale Verhandlungsprozesse. Wir brauchen einen verlĂ€sslichen Schuldenabbaupfad. Dieser muss anerkennen, dass die Schuldenquoten ĂŒberall stark gestiegen sind, aber verlĂ€sslich sein. Deshalb fĂŒhrt kein Weg daran vorbei, weiterhin mittelfristige Haushaltsziele â auch quantitativ fixierte â zu beschreiben.
Frage: Die quantitativen GröĂen â 60 % Schuldenquote und 3 % Defizitquote â hat die EU Kommission unangetastet gelassen.
Lindner: Das sind nur die in den Fiskalregeln. DarĂŒber hinaus soll es aber stĂ€rker auf SchuldentragfĂ€higkeitsanalysen hinauslaufen. Diese setzen auf Annahmen und Prognosen und sind politikanfĂ€llig. Wir halten quantitative Zielvorgaben fĂŒr besser.
Frage: Die Kommission strebt nach einer mehrjÀhrigen Betrachtung mit Perioden von mindestens vier Jahren. WÀre die Mittelfristigkeit eine Innovation?
Lindner: Nein, mittelfristige Haushaltsziele gab es ja schon. Aber wir dĂŒrfen dabei nicht ĂŒber das Ziel hinausschieĂen. Die heutigen Ziele im prĂ€ventiven Arm des StabilitĂ€tspaktes sollten erhalten bleiben. Vorstellbar ist fĂŒr uns aber der Verzicht auf die sogenannte Ein-Zwanzigstel-Regel, wenn ansonsten der prĂ€ventive Arm des StabilitĂ€tspakts vollstĂ€ndig eingehalten wird.
Frage: Was bedeutet das genau?
Lindner: In der Konsequenz wÀre das Tempo des Schuldenabbaus zu Beginn etwas geringer, aber die Richtung wÀre dennoch klar.
Frage: Es gab erste Beratungen in der Eurogruppe ĂŒber die KommissionsvorschlĂ€ge. Können diese Basis fĂŒr eine Einigung sein? Oder muss etwas Neues auf den Tisch?
Lindner: Wir sind noch weit weg von einem Konsens. Aus unterschiedlichen Richtungen gab es Bedenken und GegenvorschlÀge. Deshalb rechne ich nicht kurzfristig mit einem legislativen Vorschlag der Kommission. Das braucht noch Austausch.
Frage: Konkrete GesetzesvorschlÀge im ersten Quartal 2023 wÀren keine gute Idee?
Lindner: Es wĂ€re kĂŒhn, auf der unverĂ€nderten Basis der jetzigen VorschlĂ€ge zu arbeiten. Ich rate zu weiteren Beratungen.
Frage: Ein Inkrafttreten der Reform Anfang 2024 sehen Sie also als zu ambitioniert an?
Lindner: Nein, das ist unverĂ€ndert möglich. Aber angesichts der KomplexitĂ€t im Kreise der 27 EU-Staaten und des Themas selbst ist das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Die Bundesregierung bringt sich aber konÂstruktiv ein.
Frage: Die Haushaltsregeln sind 2023 ausgesetzt. Könnte das wegen der Wirtschaftslage 2024 so bleiben?
Lindner: Mit Blick auf den vorsichtigen Optimismus ist fĂŒr mich aktuell eher die Frage, wie wir den Exit aus vielen MaĂnahmen in Europa gestalten. Die Forderung nach einer nochmaligen VerlĂ€ngerung der Regelaussetzung ist mir noch nicht begegnet. Jedenfalls ist Deutschland bereit, im nĂ€chsten Jahr mit viel Einsatz an einer Reform des StabilitĂ€ts- und Wachstumspakts mitzuarbeiten. Vieles ist noch ungeklĂ€rt â ĂŒbrigens auch der rechtliche Charakter.
Frage: Der rechtliche Charakter?
Lindner: FĂŒr manche Aspekte könnte eine Ănderung des Fiskalvertrages erforderlich sein. Das wĂŒrde Einstimmigkeit und die Ratifizierung durch den Bundestag erfordern. GegenwĂ€rtig ist das noch nicht klar zu beurteilen.
Frage: Sie lehnen neue schuldenfinanzierte Töpfe ab. Aber zur StĂ€rkung der WĂ€hrungsunion fordern viele Institutionen â vom ESM ĂŒber die EZB bis hin zum IWF â eine dauerhafte FiskalkapazitĂ€t fĂŒr Krisen.
Lindner: Ich sehe fĂŒr eine EU-FiskalkapazitĂ€t ökonomisch keine Notwendigkeit sowie politisch und rechtlich keine Möglichkeit. Wir sollten uns auf den Wiederaufbaufonds Next Generation EU konzentrieren. Bei einem Teil der Mitgliedstaaten ist ĂŒbrigens die AbsorptionsfĂ€higkeit so hoher europĂ€ischer Gelder begrenzt. Es fehlt an VerwaltungskapazitĂ€t und an realen Projekten. Deshalb erscheint mir eine Diskussion ĂŒber noch mehr Mittel nicht erforderlich zu sein.
Frage: Die Reform der Haushaltsregeln soll die WÀhrungsunion stabiler machen. Was brauchen wir denn aus Ihrer Sicht, um die Eurozone widerstandsfÀhiger zu machen?
Lindner: Die Eurozone ist widerstandsfĂ€hig. Wir haben alle notwendigen Instrumente. Die weitere StĂ€rkung der StabilitĂ€t liegt ĂŒberwiegend in nationaler Verantwortung, also strukturellen Reformen fĂŒr WettbewerbsfĂ€higkeit und stabilen Staatsfinanzen. Damit die wirtschaftliche ProsperitĂ€t in Europa sich insgesamt verstĂ€rkt, gibt es aber schon noch WĂŒnsche.
Frage: Was wĂŒnschen Sie sich?
Lindner: Eine echte Kapitalmarktunion. Das sollte ein wesentlicher Teil unserer Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA sein. Wir sollten unsere KapitalmÀrkte zusammenzubringen und deren Finanzierungsmöglichkeit, deren finanzielle Feuerkraft stÀrken.
Frage: Die Kapitalmarktunion kommt seit Jahren nicht wirklich voran.
Lindner: Es gibt Fortschritte, aber ein höheres Ambitionsniveau wĂŒrde ich begrĂŒĂen. Darf ich einen konkreten Beitrag leisten?
Frage: Ja, bitte!
Lindner: Wir haben aus der Finanzkrise die Konsequenz gezogen, dass Verbriefungen prinzipiell gefĂ€hrlich sind. TatsĂ€chlich hat die Subprime-Krise in den USA weltweit groĂen wirtschaftlichen Schaden angerichtet. Das Instrument der Verbriefung zur marktbreiten Streuung von Risiken ist aber nicht per se schĂ€dlich. Wir könnten das Finanzierungsvolumen in Europa stĂ€rken, indem wir unsere Ă€uĂerst restriktive Haltung zur Verbriefung ĂŒberprĂŒfen.
Frage: Wie realistisch ist eine solche Reform?
Lindner: Das wĂŒrde eine Diskussion zeigen. Wir haben national wie europĂ€isch die regulatorische Architektur gestĂ€rkt. Die heutigen Kapitalanforderungen an Banken ergeben ein sehr resilientes Modell. Deshalb dĂŒrfen wir die Frage der FinanzierungsfĂ€higkeit wieder in den Blick nehmen.
Frage: Der Ball lÀge damit bei der EU-Kommission, die einen neuen Gesetzesvorschlag zur Verbriefung vorlegen sollte?
Lindner: Ich fordere keinen Legislativvorschlag, sondern möchte eine Debatte anstoĂen.
Frage: Die Verbriefungsregeln wurden zuletzt 2017 verschĂ€rft. MĂŒssten die BeschrĂ€nkungen nun wieder gelockert werden?
Lindner: Eine Evaluation wÀre gut. Die AbwÀgung zwischen Transparenz und StabilitÀt einerseits und der StÀrkung der Finanzierungsmöglichkeiten der Banken andererseits kann aktualisiert werden. Denn es hat sich einiges getan.
Frage: Zum deutschen Finanzmarkt: Wie steht es um das Zukunftsfinanzierungsgesetz?
Lindner: Finanz- und Justizministerium klĂ€ren noch einzelne, nicht zentrale Rechtsfragen. Ich bin mit meinem Kollegen Marco Buschmann im Austausch und optimistisch, dass wir dies im Januar abschlieĂen und auch den Referentenentwurf rasch finalisieren können.
Frage: Welche Punkte sind kritisch in dem variationsreichen Paket? Die steuerlichen?
Lindner: Nein, die steuerrechtlichen Fragen halte ich nicht fĂŒr so streitanfĂ€llig. Wir wollen bei der Umsatzbesteuerung im Bereich des Fondsmanagements in Deutschland wettbewerbsfĂ€hig werden. Da rechne ich mit UnterstĂŒtzung.
Frage: Auch die steuerliche BegĂŒnstigung von VerĂ€uĂerungsgewinnen aus Aktien ist unstrittig?
Lindner: Das gehört in ein anderes Paket. Wir werden 2023 intensiv ĂŒber die private Altersversorgung sprechen. Wir haben dazu die Fokusgruppe eingerichtet. Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die VerĂ€uĂerung privat gehaltener Wertpapiere steuerlich beÂgĂŒnstigt werden könnte, klĂ€ren wir da.
Frage: Wie könnte das aussehen?
Lindner: Die Idee könnte sein: Wer langfristig ein Wertpapier hĂ€lt, der bekommt den VerĂ€uĂerungsgewinn voll oder teilweise steuerfrei â als Teil der privaten Altersversorgung. Mit der Erhöhung des Sparerpauschbetrags 2023 haben wir schon etwas getan.
Frage: Warum mĂŒssen die Anleger warten?
Lindner: Es bietet sich an, ĂŒber diese Frage in einem Gesamtpaket zu sprechen, das die private SĂ€ule der Altersvorsorge in den Blick nimmt. Uns Freien Demokraten ist die private SĂ€ule immer ein besonderes Anliegen gewesen.
Frage: Bei der Aktienrente halten Sie deutlich mehr als die bewilligten 10 Milliarden Euro fĂŒr nötig, um die Rente zu stabilisieren. Wohin geht die Reise?
Lindner: Wir bilden heute fĂŒr die nĂ€chsten Generationen Kapital, um aus dessen Verzinsung Rentenbeitrag und Rentenniveau abzusichern. Wir brauchen in der SĂ€ule der gesetzlichen Rentenversicherung einen Kapitalstock im dreistelligen Milliardenbereich. Das zeigt die Bedeutung dieses Paradigmenwechsels in der Altersvorsorge. Die 10 Milliarden Euro sind nur der Beginn der Bildung dieses Generationenkapitals.
Frage: Ein Punkt im Zukunftsfinanzierungsgesetz ist die Ăbertragbarkeit von Kryptowerten. Wirkt sich die Pleite der Kryptobörse FTX darauf aus?
Lindner: Nein. Kryptowerte werden eine Assetklasse bleiben, bei der die Marktteilnehmer selbst beurteilen mĂŒssen, inwieweit sie sich engagieren und wie viel sie riskieren.
Frage: Erfordert die Erfahrung von FTX eine strenge Regulierung von Kryptoassets und Kryptobörsen?
Lindner: Wir mĂŒssen die richtigen SchlĂŒsse aus diesem konkreten Sachverhalt ziehen, ohne das Kind mit dem Bade auszuschĂŒtten. FĂŒr solche SchlĂŒsse ist es noch zu frĂŒh.
Frage: Erste Stimmen fordern auch, die Kryptokrise als Anlass zu nehmen, um das Projekt des digitalen Euro zu stoppen. Brauchen wir den digitalen Euro nicht mehr?
Lindner: Das sind absolut getrennte Bereiche: Kryptoassets sind keine WĂ€hrung. Auch steuerrechtlich behandeln wir sie als Vermögenswerte. Der digitale Euro ist eine WĂ€hrung. Vereinfacht gesagt tritt neben die MĂŒnze und den Schein eine digitale Form von Bargeld, die hinsichtlich der PrivatsphĂ€re vergleichbar sein sollte.
Frage: Das heiĂt, dass wir den digitalen Euro brauchen â auch hinsichtlich europĂ€ischer SouverĂ€nitĂ€t?
Lindner: Genau. Denn eines der herausragenden Merkmale beim digitalen Euro muss seine Programmierbarkeit sein. Diese Schnittstellen sollen innovative Finanzdienstleistungen ermöglichen.
Foto © Christian Lindner