Interne Dokumente zeigen, wie die EU eine weltweit gerechte Verteilung von Corona-Impfstoffen verhinderte
Die EU und Pharmahersteller hatten zu Beginn der Corona-Pandemie eine weltweit gerechte Verteilung der Impfstoffe versprochen. Interne Dokumente zeigen nun: Bei internen Diskussionen spielte dieses Versprechen praktisch keine Rolle. Vielmehr ging es vor allem darum, fĂŒr die EU-Bevölkerung möglichst viel Impfstoff zu sichern. Gleichzeitig sollte im Interesse der europĂ€ischen Pharma-Industrie der Patentschutz auf Corona-Impfstoffe aufrechterhalten und ein Image-Schaden fĂŒr die EU abgewendet werden. Das zeigen umfangreiche Dokumente und Sitzungsprotokolle, die das ARD-Magazin MONITOR gemeinsam mit der belgischen Organisation Corporate Europe Observatory (CEO) ausgewertet hat. Die MONITOR-Dokumentation wird heute im Ersten (21:45 Uhr) und vorab in der ARD-Mediathek ausgestrahlt.
Die Recherchen zeigen, dass die EU-Kommission und Mitgliedstaaten noch vor Entwicklung der ersten Impfstoffe im Juni 2020 vereinbart hatten, âin den Verhandlungen mit der Pharmaindustrie (âŠ) fĂŒr Covid-19 Impfstoff als ein globales öffentliches Gutâ einzutreten und sich gegenĂŒber der Pharmaindustrie fĂŒr das âTeilen von geistigem Eigentumâ einzusetzen, âinsbesondere dann, wenn dieses geistige Eigentum mit öffentlicher UnterstĂŒtzung entwickelt wurdeâ. Selbst unter Fachleuten ist diese Vereinbarung bis heute weitgehend unbekannt und schĂŒrt nun die Kritik an der tatsĂ€chlichen Politik der EU auf dem Höhepunkt der Pandemie. âDas ist ein groĂartiger Text. Aber weder die Mitgliedstaaten noch die EU-Kommission handelten dem entsprechend. Sie taten eher das Gegenteilâ, sagt die belgische sozialdemokratische EU-Abgeordnete Kathleen van Brempt gegenĂŒber MONITOR.
Laut EU-interner Protokolle zur Impfstoff-Beschaffung hieĂ es schon im Juli 2020, es sei âwichtigâ, das Engagement fĂŒr Impfstoffgerechtigkeit vom Impfstoffeinkauf der EU âzu trennenâ. In der Folge sicherten sich die EU-Staaten Milliarden von Impfdosen, die sie zu Höchstpreisen eingekauft hatten und blockierten zudem eine Aussetzung der Patente auf Corona-Impfstoffe.
Einen entsprechenden Antrag hatten Indien und SĂŒdafrika Ende 2020 bei der Welthandelsorganisation gestellt, um die Impfstoffproduktion weltweit anzukurbeln. Laut interner Protokolle hielt die EU-Kommission es jedoch fĂŒr das âdas schlimmste denkbare Szenarioâ, falls dieser Antrag durchkommen wĂŒrde. Gleichzeitig sorgte man sich bei der Kommission und den Mitgliedstaaten vor allem um einen Imageschaden als Folge dieser Blockadehaltung. Im Januar 2021 hieĂ es etwa, die Ablehnung der Patentfreigabe mĂŒsse âgegenĂŒber der Zivilgesellschaft konstruktiv kommuniziert werdenâ. Im November 2021, als die weltweite Ungleichheit bei der Impfstoffverteilung international zu heftiger Kritik fĂŒhrte, hieĂ es in den Protokollen, man werde sich âauf das absehbare âSchwarze-Peter-Spielâ gut vorbereiten.â Die Protokolle waren der Organisation CEO zugespielt worden, die sich fĂŒr Transparenz in der EU-Politik einsetzt. âDas ist wirklich schockierend: Wir haben eine einzigartige Gesundheitskrise und die Experten der Mitgliedstaaten machen sich Sorgen, dass ihre Politik ihnen ein schlechtes Image geben könnteâ, sagt Hans van Scharen von CEO.
Die EU-Kommission kann auf Anfrage bis heute keinen Fehler auf Seiten der EU erkennen. Man sei seit Beginn der Pandemie ein âVorreiter der internationalen SolidaritĂ€tâ: Die EU habe geholfen, die Produktion der begehrten Impfstoffe in Europa massiv auszuweiten und Impfstoffe seien aus der EU in die ganze Welt exportiert worden.
TatsĂ€chlich kam in den Ă€rmeren LĂ€ndern jedoch zunĂ€chst kaum Impfstoff an. Laut einer Aufstellung von UNICEF wurden bis Ende September 2021 an afrikanische Staaten gerade einmal 16 Impfdosen pro hundert Einwohner geliefert. In der EU waren es 157 Dosen â rund zehnmal so viel. Doch erst langsam werden die verheerenden Auswirkungen dieser ungerechten Impfstoff-Verteilung am Höhepunkt der Corona-Krise immer deutlicher. Eine Studie des Imperial College London, die vergangene Woche veröffentlicht wurde, geht davon aus, dass rund 600.000 TodesfĂ€lle hĂ€tten vermieden werden können, wenn das Ziel der Weltgesundheitsorganisation erreicht worden wĂ€re, bis Ende 2021 in allen LĂ€ndern mindestens 40 Prozent der Bevölkerung zu impfen.