Magdeburg / Landesbehindertenbeauftragter – Die Corona-Krise belastet die Bildungs- und Lebenslaufbahn aller Schülerinnen seit nahezu 2 Jahren. Die Hoffnungen auf einen baldigen schulischen Regelbetrieb schwinden und die Lern- und Entwicklungsrisiken für die Schülerinnen werden nicht geringer.
Schule als unverzichtbarer Raum der Lebenserfahrung ist existenziell auf den zwischenmenschlichen Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden angewiesen. Wir erleben seit Monaten, welche enorme wesensbildende Bedeutung Lehrerinnen haben. Der zeitweise und womöglich wiederkehrende Verlust des physischen Austauschs wirkt sich auf die kindliche Seele und das Leistungsvermögen unterschiedlich stark aus. Nicht alle Schülerinnen haben günstige sozio-ökonomische Bedingungen, Dauerkrisen wie die aktuelle gut zu überstehen. Manche Elternhäuser sind schlichtweg überfordert, haben Existenzsorgen. Viele Schüler*innen entfernten sich in dieser historischen Notlage unverschuldet von gewohnten Tagesstrukturen. Diejenigen, die der Schule vor der Krise regelmäßig unerlaubt fernblieben, haben ihre Distanz zu dem, was schulisches Leben für sie bedeutet muss, noch weiter ausgebaut.
Wir müssen verstehen, ganz klar bilanzieren und bevor wir agieren: Unverschuldete schulische Abstinenz führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Bildungslücken, zu Entwicklungs- und Bindungsabbrüchen. In Sachsen-Anhalt haben wir die Verantwortung für viele Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Der Anteil der Schülerinnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf betrug im Schuljahr 2020/2021 9,9 v.H. Ihre Anzahl ist in den letzten 5 Jahren gestiegen. Vielen davon fehlen oft differenzierte Lernangebote, Schulbegleitung oder Assistenz. Zu viele Schülerinnen verlassen unsere Schulen bereits jetzt ohne verwertbaren Schulabschluss. Die krisenbedingten Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter haben im Bundesmaßstab deutlich zugenommen. Hoffen wir darauf, dass es keine psychischen Langzeitschäden gibt. Vor allem lernschwache und von Behinderungen bedrohte Schülerinnen benötigen schulformübergreifend eine bedarfsgerechte Kooperations- und Willkommenskultur. Sie benötigen gerade jetzt die Schaffung einer Lernumgebung, die ihnen den schulischen Anschluss ermöglicht. Sie brauchen im krisenbedingten Wechsel zwischen Distanz- und Präsenzlernen ihre Entwicklungsrituale, Regeln und Grenzen, Gewohnheiten, Strukturen und somit Sicherheit. Es wird nicht leicht, aber unumgänglich, den Effekten schulischer Entwöhnung mit Kraft und Ausdauer entgegenzuwirken.
Vor dem zweifelsfrei schwierigen Hintergrund der Corona-Krise kann auf keinen Fall die Frage aufkommen, ob wir uns ein Mehr an Förder- und Unterstützungsangeboten leisten können. Wir müssen uns mit einem klaren Folgenbewusstsein die Frage stellen, ob wir es uns leisten können, dies nicht zu tun. Bildungs- und Chancengerechtigkeit erfahren nur dann ihre Umsetzung, wenn alle Schülerinnen in den Blick genommen werden. Was wir im Lande brauchen, ist ein bedarfsgerechter, schulprogrammatischer Masterplan für jedwede Situation der durch die Krise erforderlichen Organisation schulischen Lernens. Dies betrifft z.B. die Tagesstrukturen, die pädagogischen Konzepte, die Schülerbeförderung, die Flexibilisierung der Stundentafeln, die Lernstandsanalysen oder die Förderprogramme. Auf keinen Fall dürfen Öffnungen von Schulen mit der gewohnten Dynamik und mit traditionellen pädagogischen Erwartungshaltungen einhergehen. Wir benötigen einen weiteren Auf- und Ausbau der digitalen Infrastruktur auf schulischer Ebene. Wir müssen achtsam bleiben und pädagogische Nachsorge für benachteiligte Schülerinnen betreiben. Eltern sind und bleiben Partner der Schule, jedoch sind sie keine Ersatzlehrkräfte. Das Benachteiligungsverbot nimmt uns mit Weitsicht den Auftrag ab, eventuellen Stigmatisierungen der krisengeplagten schulischen Jahrgänge entgegenzuwirken. Es darf in der Bewertung des Geschehens kein verlorenes Schuljahr und keine sogenannten Corona – Jahrgänge geben.
Foto: Landesbehindertenbeauftragter Dr. Christian Walbrach © Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration