Bonn/Berlin, 11. Januar 2022. – Der Vorsitzende der Atlantik-Brücke und ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) schätzt die derzeitige Situation im Ukraine-Konflikt als „dramatisch“ ein. „Die Lage ist bedrohlich, weil so richtig niemand kalkulieren kann, wie weit Russland bereit ist, zu gehen“, sagte Gabriel bei phoenix. „Ich glaube, dass alleine die Tatsache, dass ein solches militärisches Drohpotenzial aufgebaut wird, schon hinreichend zur Destabilisierung beiträgt, insbesondere in der Ukraine, aber auch zu tiefer Verunsicherung in Europa. Vielleicht ist das das eigentliche Ziel – Verunsicherung zu erzeugen.“ Gabriel appellierte an Europa, eigene Konflikte zukünftig selbstständig zu lösen: „Ich habe mich in den letzten Tagen gefragt, ob es vielleicht das letzte Mal ist, dass Amerika bereit ist, im Namen Europas zu verhandeln und warum wir das nicht eigentlich selbst tun, warum wir der amerikanischen Hilfe bedürfen. Auf Dauer wird das keine Lösung sein“, so der ehemalige SPD-Vorsitzende.
Die Forderung des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk, die Bundesregierung solle sich für einen zügigen Beitritt der Ukraine in die Nato stark machen, begründet Gabriel mit der dortigen Sicherheitslage: „Der Grund kann ja nur sein, dass offensichtlich diese Länder den Eindruck haben, dass ihre Sicherheit bedroht wird, und zwar nicht von Deutschland oder den USA, sondern von Russland.“ Die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato stehe jedoch gar nicht auf der Tagesordnung, kommentierte Gabriel. Insofern stelle sich für ihn die Frage, warum Russland diese Drohgebärde aufmache. Vielmehr müsse Russland dazu bereit sein, Schritte zu machen und seine Truppen zurückzuziehen, forderte der Ex-Außenminister. „Russland kann unter der militärischen Drohgebärde von über 100.000 Soldatinnen und Soldaten nicht verlangen, dass wir Europäer und die Amerikaner klein beigeben.“
Gabriel hält Waffenlieferungen an die Ukraine aktuell nicht für sinnvoll. „Solange wir in einer Verhandlungssituation sind und militärische Aggression nicht wirklich über das hinausgeht, was wir leider schon seit Jahren in der Ostukraine erleben, glaube ich nicht, dass Waffenlieferungen jetzt irgendwie dazu beitragen können, das Ganze zu entspannen.“ Zudem seien Waffenlieferungen in Krisengebiete nach deutscher Rechtslage ausgeschlossen. Die Bundesregierung dürfe demnach keine Waffen in ein Spannungsgebiet liefern und verhalte sich insofern „rechtstreu“.
Foto/Text phoenix-Kommunikation