Bildungsgewerkschaft zu den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends 2021 im Primarbereich: „Entlastungsprogramm für Grundschulen muss kommen!“
Frankfurt a.M. – „Die Befunde zu den Leistungen der Kinder und der sozialen Schere an den Grundschulen in Deutschland sind ernüchternd und skandalös“, stellte Anja Bensinger-Stolze (Foto), Vorstandsmitglied Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), mit Blick auf die heute veröffentlichte Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Frankfurt a.M. fest. „Jetzt rächt sich, dass der Primarbereich in den vergangenen Jahren vernachlässigt wurde: der immer größer werdende Lehrkräftemangel, die ungleiche Bezahlung in den Bundesländern, große Klassen, fehlende Unterstützungssysteme, eine unzureichende Ausbildung – so legt man nicht die notwendigen Grundlagen für das zukünftige Leben der Kinder.“
„Grundschulen brauchen jetzt Unterstützung, um soziale Ungleichheit abzubauen – flankiert von Schulsozialarbeit und Schulpsychologischem Dienst. Sie brauchen dringend gut ausgebildete und gut bezahlte Pädagoginnen und Pädagogen“, betonte Bensinger-Stolze. Es sei verantwortungslos, das von der Bundesregierung angekündigte „Startchancenprogramm“ für benachteiligte Schulen unter Haushaltsvorbehalt zu stellen und auf das Schuljahr 2024/25 zu verschieben. „Die Schulen benötigen schnell ein nachhaltiges Entlastungspaket für die Lehrenden und Lernenden sowie eine Unterstützung, die nicht überwiegend auf das ‚Aufholen‘ zielt, sondern die das ‚Aufrichten‘ in den Mittelpunkt stellt“, unterstrich die GEW-Schulexpertin.
Die negative Entwicklung sei teilweise bereits seit 2011 zu erkennen, falle aber besonders seit 2016 ins Auge. „Sowohl die Kinder mit Flucht- und Migrationshintergrund als auch die Corona-Pandemie können nur zum Teil als Erklärung herhalten“, sagte Bensinger-Stolze. Dennoch habe sich in der Pandemie deutlich gezeigt, wie sich soziale Unterschiede verstärken. „Die Grundschule war zu Zeiten der internationalen Vergleichsstudien in den ersten 2000er-Jahren sowohl fachlich als auch sozial noch ein gewisser Lichtblick im Schulsystem. Die soziale Spaltung, die sich kontinuierlich vergrößert, ist ein Skandal“, hob die Gewerkschafterin hervor.
Die Bildungspolitik müsse ihr Augenmerk auf die besonderen Aufgaben und Herausforderungen der Grundschule richten. „Die Grundschule nimmt prinzipiell alle Kinder auf und hat es – mehr als andere Schulen – mit großen sozialen Unterschieden zwischen den Familien und einer großen Vielfalt der Kinder zu tun. Sie hat die Aufgabe, alle Kinder in der Entwicklung ihrer Potenziale und in ihren individuellen Entwicklungsbedürfnissen zu fördern. Das wird bei einer steigenden Kinderarmutsquote und einer wachsenden Zahl zugewanderter Kinder immer schwieriger“, sagte Bensinger-Stolze. „Andererseits müssen die Grundschulen den Weg zur weiterführenden Schule weisen, kurz gesagt: selektieren.“ Das sei eine sehr anspruchsvolle und widersprüchliche Aufgabe, die ein Maß an Unterstützung, Anleitung und Zeit braucht, das in großen Klassen nicht möglich ist. „Wer sich über den Output sorgt, darf über den Prozess und den Input nicht schweigen“, mahnte das GEW-Vorstandsmitglied. Eine regelmäßige Kontrolle der Kompetenzen mache noch lange keine Schulqualität aus. Auch müsse klar sein, dass gute Bildung und gute Arbeit zwei Seiten einer Medaille seien. Nötig seien eine niedrigere Unterrichtsverpflichtung, eine deutlich bessere personelle Ausstattung mit Lehrkräften und multiprofessionellen Teams.
Erfreulich sei jedoch, dass die Viertklässlerinnen und -klässler 2021 – trotz pandemiebedingter Einschränkungen und unabhängig vom Zuwanderungshintergrund – mit ihrer Schule großenteils zufrieden sind und sich gut in ihrer Klasse integriert fühlen. Zu denken gebe aber der Befund, dass sich Motivation und Interesse an den Fächern signifikant verschlechtert haben und die Angst vor dem Fachunterricht gestiegen ist.
Info: Der IQB-Bildungstrend 2021 nimmt die vergangenen zehn Jahre in den Blick und beleuchtet insbesondere den Zeitraum ab 2016. Diesmal standen die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler am Ende der Jahrgangsstufe 4 in den Fächern Deutsch und Mathematik im Fokus. Die Studie zeigt, dass sich der Anteil der Kinder, der den Mindeststandard beim Lesen, Zuhören und Rechnen sowie in der Rechtschreibung nicht erreicht, signifikant steigt. Beim Lesen trifft das beispielsweise mittlerweile auf 42 Prozent der Kinder zu. Ein gutes Fünftel erreicht nicht einmal die Mindeststandards. Besonders ungünstig fallen die Ergebnisse für Kinder mit Zuwanderungshintergrund oder aus benachteiligten Familien aus. Allerdings werden die Ergebnisse auch bei anderen Kindern schlechter. Gleichzeitig wird der Anteil der Schülerinnen und Schüler, der über dem Regelstandard liegt, kleiner. Die Studie analysiert zudem die unterschiedlichen Entwicklungen in den Bundesländern.
Foto (c) Kay Herschelmann