Bundestagsnachrichten/Anhörung
Berlin: (hib/WID) Gesellschaft und Politik in Deutschland haben nach EinschĂ€tzung der Sicherheitsbehörden Warnungen vor den von Russland, aber auch China ausgehenden Gefahren zu lange ignoriert. So sei der russische Ăberfall auf die Ukraine im Februar dieses Jahres fĂŒr professionelle Beobachter weit weniger unerwartet erfolgt als es fĂŒr Medien und das breite Publikum den Anschein hatte, hieĂ es in einer öffentlichen Anhörung der Spitzenvertreter der Nachrichtendienste des Bundes durch das Parlamentarische Konrollgremium. Der jĂ€hrliche Termin mit den PrĂ€sidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Bundesamtes fĂŒr Verfassungsschutz (BfV) und des MilitĂ€rischen Abschirmdienstes (MAD) fand am Montag zum sechsten Mal statt.
BND-PrĂ€sident Bruno Kahl nannte den Angriffskrieg gegen die Ukraine eine âZĂ€surâ, die aber ânicht wirklichâ ĂŒberrascht habe. Es sei eingetreten, wovor seine Behörde ĂŒber Jahre hinweg gewarnt habe, dass Russlands PrĂ€sident Wladimir Putin weiterhin bereit sei, Gewalt anzuwenden, um seine Ziele zu erreichen, und dass sich an diesen Zielen auch nichts geĂ€ndert habe. âBedauerlicherweiseâ sei es im öffentlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte ĂŒblich gewesen, Bedrohungen zu ignorieren und Warnungen der Sicherheitsbehörden als Panikmache abzutun. Die Berichterstattung des BND ĂŒber Putins Gewaltneigung sei immer âziemlich vorbehaltlosâ gewesen, indes: âDie Neigung von Politik und Ăffentlichkeit, lieber auf eine positive Wendung zu vertrauen, die ist einfach da.â
Putin sei zu dem Ergebnis gekommen, dass er den Westen auf dem Verhandlungswege weder zur Anerkennung vermeintlicher russischer Sicherheitsinteressen noch seines Wunsches, als Supermacht wahrgenommen zu werden, werde bewegen können. In seinem KalkĂŒl hĂ€tten letztlich die Kosten eines Krieges weniger schwer gewogen als die einer weiteren AnnĂ€herung der Ukraine an den Westen. Nach Putins VerstĂ€ndnis russischer Sicherheitsinteressen gehe die Hauptbedrohung von der in seiner Wahrnehmung âaggressivenâ Verbreitung von Freiheit und Demokratie durch den Westen aus. Der Westen könne es aber keinem Land der Welt verwehren, eine demokratische Ordnung anzustreben, nur weil das die Ruhe eines autokratischen Nachbarn störe.
Bis auf Weiteres sei der Kreml an einer Verhandlungslösung nicht interessiert. Der Krieg werde daher mit Sicherheit auch im nĂ€chsten Jahr andauern. Kahl rĂ€umte ein, dass Putin bei anhaltenden Misserfolgen einer konventionellen KriegfĂŒhrung in die Versuchung geraten könnte, âsubstrategischeâ Kernwaffen einzusetzen, um die Ukraine an den Verhandlungstisch zu zwingen und einen Diktatfrieden durchzusetzen. Allerdings gebe es dafĂŒr derzeit keine Anhaltspunkte: âWir sehen im Moment keine Vorbereitungen fĂŒr den Einsatz strategischer oder substrategischer Waffen. Es ist kein Grund zur Panik da.â
Eine erhebliche Bedrohung sei auf die Dauer auch von einem âzur Globalmacht aufsteigenden autokratischen Chinaâ zu befĂŒrchten, warnte Kahl. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in Deutschland seien in dieser Hinsicht bisher ebenfalls zu vertauensselig gewesen und hĂ€tten sich in eine âschmerzhafte AbhĂ€ngigkeitâ begeben von einer Macht, die âauf einmal nicht mehr wohlgesonnenâ erscheine. Gemeinsam mit dem BfV bemĂŒhe sich der BND seit fĂŒnf Jahren, in Wirtschaft und Wissenschaft das Bewusstsein fĂŒr die von China ausgehenden Risiken zu schĂ€rfen. Ein erster Erfolg sei 2019 eine skeptische Stellungnahme des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) zu wirtschaftlichen Verflechtungen mit der fernöstlichen Supermacht gewesen. Doch gebe es âim wissenschaftlichen Bereich noch viel Vertrauen und NaivitĂ€tâ, die nicht angebracht seien.
Auch BfV-PrĂ€sident Thomas Haldenwang betonte, dass seine Behörde schon âvor langer Zeitâ erkannt habe, mit welch enormer strategischer Ausdauer das autoritĂ€re Regime Russlands an der Destabilisierung der westlichen Demokratien arbeite. Der Verfassungsschutz habe den Kreml âlĂ€ngstâ als âaggressiven Akteurâ auf dem Schirm gehabt, der âmit unlauteren Mitteln und Methodenâ vorgehe. Er habe unter anderem vor zwei Jahren vor einer âalarmierenden Brutalisierungâ russischer SpionageaktivitĂ€ten gewarnt. Nach dem Ăberfall auf die Ukraine sei zu erwarten, dass die âHemmschwelle fĂŒr nachrichtendienstliche Operationenâ weiter sinken werde. Die seit langem schwelende SystemrivalitĂ€t sei jetzt in einen offenen Kampf umgeschlagen. Immerhin sei es am 4. April diesen Jahres gelungen, den russischen Diensten einen âempfindlichen Schlagâ zu versetzen, als die Bundesregierung 40 vom BfV enttarnte Kreml-Spione ausgewiesen habe: âDas waren lĂ€ngst nicht alle.â
In Zukunft sei damit zu rechnen, dass die russische Spionage ânoch mehr konspirativâ vorgehe. Zu befĂŒrchten seien Cyber-Attacken sowie AusspĂ€hung und sogar Ermordung in Deutschland lebender russischer Regimegegner. Eine âBedrohung im politischen Raumâ seien zudem Desinformations- und Einflusskampagnen sowie âvon russischen Stellen verbreitete prorussische Narrativeâ, von denen zu erwarten sei, dass sie noch âdeutlich offensiver und aggressiverâ wĂŒrden. Hier nutze Russland alle KanĂ€le der Verbreitung von Falschmeldungen, denen Haldenwang âdemokratiezersetzende Relevanzâ zuschrieb, auch mit Hilfe prorussischer âInfluencerâ und âaktiver Politiker mit besonderer Russland-NĂ€he, die zum Teil im Deutschen Bundestag russische Propaganda verbreiten – aus tiefer Ăberzeugung oder weil’s dafĂŒr Geld gibtâ.
Wie der BND-PrĂ€sident gab auch Haldenwang zu verstehen, dass auf die Dauer die weit erheblichere Bedrohung deutscher Sicherheit und deutscher Interessen von China ausgehe: âRussland ist der Sturm, China ist der Klimawandel.â Zugleich betonte der oberste VerfassungsschĂŒtzer, dass seine Behörde trotz der erhöhten Herausforderung durch die internationale Lage Gefahren fĂŒr die Demokrate in Inneren nicht aus den Augen verliere. Dies gelte insbesondere fĂŒr den Kampf gegen den gewaltbereiten Rechtsextremismus sowie intellektuelle Vordenker der Neuen Rechten. Hier sei in den nĂ€chsten Monaten zu beobachten, in welchem MaĂe es Rechtsradikalen gelinge, Proteste gegen Wirtschaftskrise und Teuerung zu instrumentalisieren. Die sei bisher noch eine offene Frage. Im gewaltorientierten linken Spektrum gewinne vor dem Hintergrund der deutschen Waffenhilfe fĂŒr die Ukraine der Antimilitarismus wieder an Bedeutung. Unter dem Eindruck des Nato-Abzuges aus Afghanistan sei auch die Bedrohung durch den Islamismus in jĂŒngster Zeit erneut angestiegen.
Die PrĂ€sidentin des MAD Martina Rosenberg berichtete, dass ihre Behörden schon vor dem Ăberfall auf die Ukraine âseit vielen Jahrenâ russische SpionagetĂ€tigkeit âauf hohem Niveauâ beobachte. AusgespĂ€ht wĂŒrden Verteidigungsstrukturen und Zukunftsplanung der Bundeswehr, die RĂŒstungsindustrie, jetzt auch Waffenlieferungen an die Ukraine sowie die AusbildungsunterstĂŒtzung ukrainischer Soldaten in Deutschland. So sei neuerdings festzustellen, dass ausgerechnet Bundeswehr-Standorte, wo solche militĂ€rischen Schulungen stattfinden, immer wieder von Drohnen ĂŒberflogen werden. Die Bundeswehr sei Ziel russischer Desinformationskampagnen in osteuropĂ€ischen Nato-Staaten wie Litauen und der Slowakei, wo sie mit Truppen prĂ€sent ist. Hier gebe es Versuche, mit gezielten Falschmeldungen das Vertrauen der Bevölkerung in die Nato zu untergraben.
Nach wie vor gelte das Augenmerk ihrer Behörde aber auch dem Kampf gegen Rechtsradikale in der Truppe, betonte Rosenberg, die sich gegen Kritik verwahrte, der MAD gehe dabei möglicherweise mit Ăbereifer zu Werke: âNein, fĂŒr Extremisten ist in der Bundeswehr kein Platz.â Die Zahl der einschlĂ€gigen Ermittlungen sei zwischen 2020 und 2021 von 574 auf 688 angestiegen. Dabei seien im vergangenen Jahr elf Extremisten sowie 31 Personen âmit fehlender Verfassungstreueâ festgestellt worden.