Innenministerin stellt Verfassungsschutzbericht fĂŒr das Jahr 2023 vor

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Magdeburg. Sachsen-Anhalts Innenministerin Dr. Tamara Zieschang (Foto) hat heute gemeinsam mit dem Leiter des Verfassungsschutzes Jochen Hollmann den Verfassungsschutzbericht fĂŒr das Jahr 2023 vorgestellt. Darin wird insbesondere auf folgende Aspekte hingewiesen:

  1. Der Verfassungsschutz stuft den Landesverband Sachsen-Anhalt der Partei „Alternative fĂŒr Deutschland“ (AfD) seit dem vergangenen Jahr als gesichert rechtsextremistische Bestrebung ein. Die politische Agitation der AfD Sachsen-Anhalt richtet sich gegen essentielle Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, insbesondere gegen die Garantie der MenschenwĂŒrde aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) und gegen das Demokratieprinzip aus Artikel 20 Absatz 1 GG. FĂŒhrende Funktions- und MandatstrĂ€ger sind darĂŒber hinaus eng mit anderen rechtsextremistischen Organisationen vernetzt.
  2. Mit israelfeindlicher und antisemitischer Hasspropaganda haben extremistische Gruppierungen auf die jĂŒngste Eskalation des Nahostkonflikts infolge des Terrorangriffs der HAMAS auf Israel am 7. Oktober 2023 reagiert. In der islamistischen und rechtsextremistischen Szene Sachsen-Anhalts erfolgte dies ĂŒberwiegend ĂŒber das Internet. Linksextremisten aus dem sogenannten antiimperialistischen Spektrum fĂŒhrten hingegen mehrere Kundgebungen durch, bei denen zahlreiche Äußerungen zu verzeichnen waren, die dem israelbezogenen Antisemitismus zuzurechnen sind.
  3. Das extremistische Personenpotenzial hat im Jahr 2023 einen neuen Höchststand erreicht. Insgesamt hat der Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt rund 5.480 Personen als Extremisten eingestuft. Dies entspricht einem Anstieg von mehr als 70 Prozent bzw. 2.310 Personen gegenĂŒber dem Vorjahr. Dieser Zuwachs ist vor allem auf einen starken Anstieg des Personenpotenzials im PhĂ€nomenbereich Rechtsextremismus auf rund 3.350 Personen (2022: 1.270) infolge der Einstufung der AfD Sachsen-Anhalt als rechtsextremistische Bestrebung zurĂŒckzufĂŒhren. Aber auch in den PhĂ€nomenbereichen ReichsbĂŒrgerszene und Linksextremismus hat der Verfassungsschutz einen Anstieg des Personenpotenzials festgestellt.

Innenministerin Dr. Tamara Zieschang: â€žUnsere Demokratie steht unter Druck: Noch nie waren in Sachsen-Anhalt so viele Menschen in verfassungsfeindlichen Strukturen organisiert wie im vergangenen Jahr. Einen Schwerpunkt der Arbeit des Verfassungsschutzes bildet nach wie vor die Beobachtung der rechtsextremistischen Szene. Insbesondere der sogenannten Neuen Rechten ist es in den vergangenen Jahren teilweise gelungen, fremdenfeindliche Positionen und Begriffe im öffentlichen Diskurs zu verankern oder sogar auf deren Normalisierung hinzuwirken. Vor dieser Entwicklung zu warnen, ist Aufgabe des Verfassungsschutzes. Ihr entgegenzutreten, ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die alle angeht.“

Zu den PhÀnomenbereichen im Einzelnen:

Anstieg des rechtsextremistischen Parteienspektrums

Bislang hat die AnhĂ€ngerschaft des parteigebundenen Rechtsextremismus den kleinsten Teil der rechtsextremistischen Szene ausgemacht. Seit der Einstufung der AfD Sachsen-Anhalt als rechtsextremistische Bestrebung ĂŒbersteigt das Personenpotenzial des parteigebundenen Rechtsextremismus das Personenpotenzial des parteiungebundenen und weitgehend unstrukturierten Rechtsextremismus jedoch deutlich. Im Jahr 2023 waren in Sachsen-Anhalt insgesamt 2.345 Personen (2022: 190) in rechtsextremistischen Parteien organisiert: in den LandesverbĂ€nden Sachsen-Anhalt der AfD (2.210 Personen;

2022: -*) und der Partei „Die Heimat“ (ehemals NPD) (70 Personen; 2022: < 100) sowie in sogenannten „StĂŒtzpunkten“ bzw. „Abteilungen“ der Kleinstparteien „Der III. Weg“ (60 Personen; 2022: 45) und „Neue StĂ€rke Partei“ (NSP) (5 Personen; 2022: 30). Die einzige „Abteilung“ der NSP in Sachsen-Anhalt („Neue StĂ€rke Magdeburg“) hat sich im Februar 2023 aufgelöst. WĂ€hrend „Die Heimat“, „Der III. Weg“ und die NSP eine neonazistische Programmatik vertreten, ist die AfD Sachsen-Anhalt ideologisch der „Neuen Rechten“ zuzurechnen. Vertreter der AfD Sachsen-Anhalt haben mitunter allerdings Verbindungen auch in die neonazistische Szene.

WÀhrend das Personenpotenzial des parteiungebundenen, vornehmlich neonazistisch geprÀgten Rechtsextremismus konstant geblieben ist (250 Personen; 2022: 255), hat sich der bereits im Vorjahresbericht konstatierte Bedeutungszuwachs des weitgehend unstrukturierten Teils der rechtsextremistischen Szene im Jahr 2023 fortgesetzt. Das Personenpotenzial dieses Spektrums, dessen AnhÀnger gar nicht oder nur lose in örtlich aktiven Strukturen organisiert sind, stieg auf 970 Personen (2022: 900) an.

(* Im Verfassungsschutzbericht 2022 fand der Landesverband Sachsen-Anhalt der AfD keine ErwĂ€hnung und deshalb wurde auch dessen Personenpotenzial nicht aufgefĂŒhrt.)

Zahl der „ReichsbĂŒrger“ und „Selbstverwalter“ erneut angestiegen

Die Zahl der „ReichsbĂŒrger“ und „Selbstverwalter“ in Sachsen-Anhalt ist zum dritten Mal in Folge angestiegen. Der Verfassungsschutz rechnete diesem PhĂ€nomenbereich im Jahr 2023 rund 700 Personen (2022: 650) zu. Ein Drittel von ihnen ist in Gruppierungen wie „Königreich Deutschland“ (KRD) oder „VaterlĂ€ndischer Hilfsdienst“ (VHD) aktiv. Bei den ĂŒbrigen Szeneangehörigen handelt es sich in der Regel um Einzelpersonen.

Schwindende MobilisierungsfĂ€higkeit im PhĂ€nomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“

Das Mobilisierungspotenzial der extremistischen Akteure aus dem PhĂ€nomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ hat im Jahr 2023 weiter abgenommen. Seit dem Auslaufen der Maßnahmen zur EindĂ€mmung der Corona-Pandemie stoßen die Versammlungen dieser Szene kaum noch auf Resonanz. Der Verfassungsschutz ordnet diesem PhĂ€nomenbereich Gruppierungen zu, die das politische System der Bundesrepublik Deutschland sowie dessen ReprĂ€sentanten verĂ€chtlich machen und Verschwörungsnarrative verbreiten, hierbei jedoch keine eindeutig rechtsextremistische oder „ReichsbĂŒrger“-typische Ideologie propagieren. In Sachsen-Anhalt umfasst das Personenpotenzial dieses PhĂ€nomenbereichs rund 100 Personen. Neben der „Bewegung Halle“ sowie den InternetprĂ€senzen und Social Media-KanĂ€len von „Mitteldeutschland TV“ ist der Verein „Bernburg steht auf e. V.“ dem PhĂ€nomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ zuzurechnen.

Jochen Hollmann, Leiter des Verfassungsschutzes Sachsen-Anhalt: â€ž75 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes und 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution ist die Demokratie im Land Sachsen-Anhalt stĂ€rker bedroht als je zuvor, von innen wie auch von außen. Der Rechtsextremismus befindet sich im Aufwind, er ist im parlamentarischen Raum und in den kommunalen Vertretungen angekommen. Insbesondere der rechtsextremistischen AfD Sachsen-Anhalt ist es zuletzt gelungen, aktuelle Krisen und Konflikte fĂŒr die Verbreitung ihrer fremdenfeindlichen Parolen zu instrumentalisieren und ihre AnhĂ€ngerschaft auf diese Weise zu vergrĂ¶ĂŸern. Aber auch in anderen PhĂ€nomenbereichen des Extremismus sehen wir eine erhebliche Radikalisierungsdynamik, die besonders im Zusammenhang mit aktuellen Konflikten sichtbar wird. Hier ist insbesondere die israelfeindliche und hĂ€ufig antisemitische Agitation von Linksextremisten, Islamisten und Rechtsextremisten infolge des Terrorangriffs der HAMAS auf Israel vom 7. Oktober 2023 zu nennen. Auch mit den zunehmenden SpionageaktivitĂ€ten fremder Staaten, die von Desinformationskampagnen ĂŒber Cyberangriffe reichen, muss sich der Verfassungsschutz verstĂ€rkt auseinandersetzen, um zu verhindern, dass die Gegner unserer Demokratie ihre Ziele erreichen.“

Linksextremismus: Zuwachs im nicht gewaltorientierten Spektrum

Das linksextremistische Personenpotenzial in Sachsen-Anhalt ist im Jahr 2023 angestiegen. Insgesamt hat der Verfassungsschutz 680 Personen der linksextremistischen Szene zugerechnet, dies entspricht einem Zuwachs von 13 Prozent (80 Personen) gegenĂŒber dem Vorjahr. Dieser Anstieg ist auf eine relativ dynamische Entwicklung im nicht gewaltorientierten Spektrum des Linksextremismus zurĂŒckzufĂŒhren. Im gewaltorientierten Spektrum des Linksextremismus lag das Personenpotenzial unverĂ€ndert bei 295 Personen.

Im vierten Quartal des Jahres 2023 bildete der aktuelle Nahostkonflikt einen Schwerpunkt linksextremistischer Propaganda. Die beiden Zentren des gewaltorientierten Linksextremismus in Sachsen-Anhalt stehen sich mit Magdeburg und Halle (Saale) nicht nur geographisch, sondern auch ideologisch gegenĂŒber: WĂ€hrend die antiimperialistische Szene Magdeburgs fĂŒr eine bedingungslose SolidaritĂ€t mit den PalĂ€stinensern warb und hierbei auch vor antisemitischen Äußerungen sowie einer offenen Glorifizierung der Terrororganisation HAMAS nicht zurĂŒckschreckte, stellte sich die „antideutsch“ bzw. ideologiekritisch geprĂ€gte Szene in Halle (Saale) demonstrativ an die Seite Israels.

Konstantes Personenpotenzial in den PhÀnomenbereichen Islamismus und Auslandsbezogener Extremismus

Das islamistische Personenpotenzial lag im Jahr 2023 unverĂ€ndert bei rund 400 Personen. Davon werden rund 105 Personen (2022: 100) dem Salafismus zugerechnet. Auch innerhalb der islamistischen Szene Sachsen-Anhalts kam es infolge des HAMAS-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 zu zahlreichen Äußerungen von Israelfeindlichkeit und von Antisemitismus. Die hĂ€ufigste Art der Äußerung war die Verbreitung von gewaltverherrlichendem und volksverhetzendem antiisraelischem Propagandamaterial. Das islamistisch-terroristische Personenpotenzial liegt in Sachsen-Anhalt im mittleren zweistelligen Bereich. Die Gefahr fĂŒr jihadistisch motivierte Gewalttaten ist nach wie vor hoch.

Neben dem Islamismus hat der Verfassungsschutz auch den sogenannten auslandsbezogenen Extremismus im Blick. Wie schon in den Vorjahren war die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) auch im Jahr 2023 die einzige auslĂ€ndische extremistische Organisation, die in Sachsen-Anhalt ĂŒber relevante Strukturen verfĂŒgt. Das Personenpotenzial liegt seit 2016 konstant bei etwa 250 AnhĂ€ngern.

Sicherheitsrisiken durch russische Desinformationskampagnen bestehen fort

Sogenannte hybride Bedrohungen durch Desinformationskampagnen, Spionage und Cyberangriffe haben gegenĂŒber dem Jahr 2022 weiter zugenommen. Vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine versuchen derzeit insbesondere russische Nachrichtendienste und Medien, gezielt Propaganda und Desinformationen zu verbreiten, um Deutschland und Europa zu destabilisieren. Dazu werden Informationen ĂŒber UmstĂ€nde und HintergrĂŒnde zu eigenen Gunsten verzerrt, von rechtswidrigen und autokratischen Motivationen abgelenkt und ĂŒber die Konstruktion von Bedrohungsszenarien Ängste und Verunsicherung in der Bevölkerung sowie Misstrauen in das demokratische System befördert.

Eine zunehmende Gefahr fĂŒr staatliche Stellen und Unternehmen in Sachsen-Anhalt geht zudem von russischen und chinesischen SpionageaktivitĂ€ten aus. Der beim Verfassungsschutz angesiedelte Wirtschaftsschutz berĂ€t die in Sachsen-Anhalt ansĂ€ssigen Unternehmen, wie sie sich effektiv gegen solche Spionageangriffe und AusspĂ€hversuche schĂŒtzen können.

Hintergrund

Der Verfassungsschutzbericht ist Teil der ExtremismusprĂ€vention und Ausdruck der Arbeit und des gesetzlichen Auftrags des Verfassungsschutzes als Informationsdienstleister und FrĂŒhwarnsystem. Nach § 15 Abs. 2 des Gesetzes ĂŒber den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt (VerfSchG-LSA) hat das Ministerium fĂŒr Inneres und Sport als Verfassungsschutzbehörde unter anderem die Öffentlichkeit periodisch ĂŒber seine Aufgabenfelder und entsprechende verfassungsfeindliche Bestrebungen und TĂ€tigkeiten nach § 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA zu unterrichten. Der Bericht richtet sich sowohl an die Landesregierung und den Landtag von Sachsen-Anhalt als auch an die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger im Land. Er gibt einen Überblick ĂŒber das Potenzial der verfassungsfeindlichen Bestrebungen in Sachsen-Anhalt. Zudem sind hier Prognosen zu den Entwicklungen in den einzelnen extremistischen PhĂ€nomenbereichen zu finden.

Der komplette Verfassungsschutzbericht 2023 und die Berichte der Vorjahre sind im Internet abrufbar unter: lsaurl.de/VSB2023

Text/Foto: Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt am 02. Juli 2024