Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner gab der „Welt am Sonntag“ das folgende Interview:
Frage: Die FDP ist in der Regierung und ein staatliches Ausgabenprogramm jagt das andere. Sie verteilen Geld an die Bürger mit der Gießkanne. Haben Sie in der Regierung den liberalen Geist aufgegeben?
Lindner: Ganz im Gegenteil. Man sieht es daran, dass wir in der Pandemie Schritte zur Normalität zurückgegangen sind. Es gibt keine Steuererhöhungen. Die FDP sorgt dafür, dass das Land einen Kurs der Mitte fährt, aber die Pandemie ist eben noch nicht überwunden. Ich finanziere als Finanzminister in diesem Jahr weiter die kostenfreien Bürgertests und Impfmöglichkeiten. Wir haben Krieg in Europa mit enormen Steigerungen der Energiepreise. Deshalb müssen wir die besonders betroffenen privaten Haushalte schützen und die gefühlte Inflation dämpfen, die sich an der Zapfsäule besonders stark ausdrückt.
Frage: Allein die Benzinpreis-Subventionen kosten den Staat Milliarden. Für drei Monate wird Benzin um 35 Cent pro Liter billiger. Das kann doch nicht nachhaltig sein – weder für die Umwelt noch für die Staatsfinanzen?
Lindner: Hier handelt es sich ja um eine akute Maßnahme in der Krise. Ich hätte lieber wie in Frankreich, Spanien, Italien und Luxemburg einen direkten Rabatt gehabt, der wäre agiler gewesen. Politisch haben wir uns auf eine Steuersatzänderung geeinigt. Die FDP hat schon vor der Bundestagswahl dazu geraten, die Steuersätze bei der Energie zu reduzieren. Jetzt in der Krise für einen begrenzten Zeitraum auf die hohen Weltmarktpreise nicht auch noch eine hohe Mengensteuer zu erheben, das scheint mir notwendig.
Frage: Schwer zu verstehen, dass Sie gerade in einer Krise, in der Rohstoffe knapp sind, den Markt-Preis-Mechanismus aushebeln.
Lindner: Es handelt sich um eine Steuer, die wir reduzieren. Wir greifen nicht in den Markt ein. Wir haben bereits sehr hohe Weltmarktpreise, mit Blick auf Sprit und Diesel aber keine akute Knappheit. Nachhaltig ist das vor einem anderen Hintergrund: Es geht darum, die Inflationserwartungen verankert zu halten. Wir müssen unbedingt eine Lohn-Preis- Spirale verhindern. Dort, wo die Menschen das Gefühl haben, Kaufkraft zu verlieren, kann der Staat auch gezielt entlasten. Dieses Signal setzen wir. Und da bewegen wir uns im Kreis unserer europäischen Partner.
Frage: Jeder Arbeitnehmer soll zudem 300 Euro Energiezuschuss bekommen. Sollten wir nicht eher Energie sparen, anstatt das Füllhorn auszuschütten?
Lindner: Ich habe schon im Bundestagswahlkampf dafür geworben, die breite Mitte der Menschen zu entlasten, vom Facharbeiter zur Ingenieurin, von der Volkswirtin bis zur Pflegekraft. Das ist jetzt noch dringlicher geworden.
Frage: Beschlossen haben Sie allerdings ein einmaliges Hilfs-Häppchen, keine dauerhafte Entlastung.
Lindner: Sie müssen sich schon für einen Kritikpunkt entscheiden. Entweder sagen Sie, es ist eine befristete Entlastung, die man nicht braucht, oder Sie sagen, die Entlastung kommt nicht dauerhaft.
Frage: Der Bund nimmt zwischen 2020 und 2022 so viele neue Schulden auf wie in den 25 Jahren zuvor. Ein Albtraum für einen Finanzminister, oder?
Lindner: Das ist kein nachhaltig tragbarer Zustand. Deutschland ist trotzdem unverändert finanzpolitisch stabil, unsere gesamtstaatliche Verschuldung befindet sich immer noch nur im Bereich von etwa 70 Prozent. In dieser Krise müssen wir Handlungsfähigkeit zeigen. Wir müssen die Ukraine unterstützen und wir müssen wirtschaftlichen Schaden abwenden. Wir müssen die besonders betroffenen Haushalte entlasten. Wir müssen uns um die Geflüchteten aus der Ukraine kümmern. Und es war auch meine Idee, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Ertüchtigung der Bundeswehr bereitzustellen. Auch das muss noch in diesem Jahr erfolgen. Wenn wir hoffentlich ab dem kommenden Jahr wieder in die Normalität der Haushaltsführung zurückkehren, muss die Schuldenbremse wieder gelten.
Frage: In der Energieversorgung müssen wir unabhängig von Russland werden. Das schaffen wir kurzfristig nicht mit erneuerbaren Energien. Brauchen wir Atomkraft als Übergangstechnologie?
Lindner: Ich würde es gerne in einer anderen Reihenfolge darstellen. Erstens müssen wir unsere Energie-Importe diversifizieren. Ich habe schon jahrelang für LNG-Terminals in Deutschland geworben. Jetzt kommen sie. Wir brauchen grünen Wasserstoff und andere Quellen für die Öl-Importe. Zweitens müssen wir die erneuerbaren Energien – ich spreche von Freiheitsenergien – in ihrer Kapazität schnell ausbauen. Das ist eine Frage von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Privates Kapital steht zur Verfügung. Es stehen sogar rund 350 Milliarden Euro öffentliches Geld in meiner Haushaltsplanung zur Verfügung. Drittens müssen wir unsere eigenen Energiequellen fossiler Art – Öl und Gas in der Nordsee – explorieren. Und jetzt kommen wir zur Kernkraft. Ich habe Zweifel, ob sie in Deutschland tatsächlich einen Beitrag leisten kann. Wir sprechen nur noch über drei Anlagen. Und die Brennstäbe dafür müssen wir ebenfalls importieren. Aber ich bin für eine unideologische Debatte über Energieversorgung. Ich bin auch offen für eine Debatte über Kernenergie. Wenn der Wirtschaftsminister das vorschlägt, dann wird es am Widerstand der FDP nicht scheitern.
Frage: Das klingt, als wollten Sie die Verlängerung der Laufzeiten für die Atomreaktoren vorschlagen.
Lindner: Nein. Wenn der zuständige Wirtschaftsminister, der in seinem Ministerium über den Sachverstand verfügt, das vorschlägt, scheitert es am Finanzminister nicht. Aber der Finanzminister oder auch der FDP-Vorsitzende ist da fachlich nicht zuständig. Wichtig ist mir allerdings, dass wir bei den erneuerbaren Energien in unseren Ambitionen realistisch bleiben. Meine Sorge ist, dass wir uns überheben und die Bezahlbarkeit von Energie in den Hintergrund rücken. Wir sollten viel Mühe darauf verwenden, noch Kohle, Öl und Gas für einen notwendigen Zeitraum zu beziehen. Wir müssen schließlich auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft im Blick behalten.
Frage: Wir müssen in Zukunft nachhaltiger wirtschaften. Wenn Sie entscheiden könnten – an welchen drei Stellschrauben würden Sie drehen?
Lindner: Erstens: eine europäisch abgestimmte Energie- und Klimapolitik, die technologieoffen ist und auf Erfindergeist setzt. Zweitens: Ich wünsche mir, dass wir auch die Potenziale negativer Emissionen, also die Speicherung und Nutzung von CO2, stärker betrachten. Drittens: Ich wünsche mir einen Klima-Klub. Die entwickelten Industrienationen müssten, wie bei der globalen Mindeststeuer, in einen gemeinsamen CO2-Handelsmechanismus eintreten. Daran arbeite ich im Zuge der deutschen G7-Präsidentschaft.
Foto © Christian Lindner