Mut, Menschlichkeit und der Weg zur Heilung: Shirin hilft nach dem Magdeburger Weihnachtsmarkt-Anschlag – und findet nach Erschöpfung selbst Hilfe

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Magdeburg. Es sind Sekunden, die alles verändern: Ein Auto fährt mitten durch den Magdeburger Weihnachtsmarkt – nur knapp an Shirin und ihrer kleinen Familie vorbei. Noch während ihr klar wird, was gerade geschehen ist, entscheidet sich Shirin intuitiv, am Ort des Geschehens zu bleiben und zu helfen. Gestützt auf ihren medizinischen Kontext als gelernte Gesundheits- und Krankenpflegerin bittet sie ihren Mann und ihr Kind, sich in Sicherheit zu bringen – und konzentriert sich ganz auf die Verletzten.

Schnell sortiert sie ihre Gedanken und beginnt, strukturiert Hilfe zu leisten. Noch bevor professionelle Rettungskräfte eintreffen, leitet sie die ersten Maßnahmen ein und versucht, den Menschen in ihrem Umkreis bestmöglich zu helfen. Es fühlt sich an, als wäre sie eine halbe Ewigkeit dort gewesen. Sie beruhigt zahlreiche Menschen, gibt erste Anweisungen und spendet Trost. Besonders lebendig erinnert sie sich daran, wie sie einen kleinen Jungen fest in die Arme schließt und ihm beruhigend zuspricht: „Alles wird gut. Mach dir keine Sorgen.“

Das Leid der Menschen berührt sie tief. Nach dem Eintreffen der Notärztinnen und Notärzte spürt sie, dass ihre Hilfe nun nicht mehr gebraucht wird. In diesem Moment trifft sie die Entscheidung, zu ihrer Familie zurückzukehren.

In den Tagen danach lebt Shirin wie in einer Blase: Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und belastende Flashbacks bestimmen ihren Alltag. Immer wieder hört sie die Schreie, sieht die Bilder vor sich, als wäre sie noch mitten im Geschehen. Am 7. Januar, bei einem scheinbar normalen Arbeitstag, überkommt sie eine Panikattacke. Danach geht nichts mehr. Erst jetzt wird ihr klar: Sie braucht Hilfe.

„Ich dachte, ich könnte einfach normal weitermachen, schließlich war mir ja nichts passiert“, sagt Shirin heute. „Aber diese Annahme war falsch.“ Sie sucht psychotherapeutische Unterstützung – ein Schritt, der sich als lebenswichtig erweist.

Prof. Dr. med. Nickl-Jockschat, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Magdeburg und Experte für Psychotraumatologie, erklärt: „Ersthelfer sind oft Menschen mit einem sehr hohen Maß an Hilfsbereitschaft. Wechseln nach einem traumatischen Ereignis aufgrund einer Traumafolgestörung die Seiten, werden sie plötzlich selbst zu Betroffenen. Das ist für sie häufig nur schwierig zu akzeptieren. Der Schritt, sich Hilfe zu holen, ist aber enorm wichtig und sollte frühzeitig erfolgen, um eine Chronifizierung der Erkrankung zu verhindern.“ Gemeinsam mit der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Magdeburg (Direktor: Prof. Florian Junne) hat seine Klinik noch am Abend des Anschlags eine psychosoziale Akuthilfe für Angehörige, Mitarbeitende und Betroffene eingerichtet. Diese Anlaufstelle hat seither bereits über 800 Menschen betreut.

Auch Shirin, deren Geschichte jetzt in einer neuen Folge der ZDF-Dokureihe „Tru Doku“ erzählt wird, möchte anderen Mut machen: „Wir müssen erkennen, dass wir genauso wichtig sind wie diejenigen, denen wir helfen. Es ist keine Schwäche, Unterstützung anzunehmen – es ist ein Zeichen von Stärke.“

Besonders geholfen haben ihr neben der therapeutischen Unterstützung auch die Hoffnung und die Erfahrung, dass Menschlichkeit und Mitgefühl auch in den dunkelsten Momenten tragen können. „Wir dürfen uns unsere Menschlichkeit nicht nehmen lassen“, betont Shirin. „Trotz Hass und Wut – Mitgefühl und Zusammenhalt geben uns die Kraft, wieder ins Leben zurückzufinden.“

Quelle: UMMD am 14. April 2025

Foto: Shirin kämpft sich nach dem Anschlag in Magdeburg zurück … (c) ZDF