Beraterinnen in Pflegestützpunkten, Heimleiter und Pflegewissenschaftler schlagen Alarm / Sendung am Di., 20. Juni 2023, 21:45 Uhr im Ersten
Mainz. Beraterinnen in Pflegestützpunkten, Heimleiter und Pflegewissenschaftler sprechen gegenüber „Report Mainz“ von Triage (Auswahl oder Selektion) in der Pflege. So haben sechs Beraterinnen von Pflegestützpunkten aus ganz Rheinland-Pfalz einen schriftlichen Hilferuf an die Politik verfasst. Eine der Autorinnen, Monika Kunisch, sagte dem ARD-Politikmagazin: „Wir sprechen von Pflege-Triage, weil einfach die Dienste und Einrichtungen auswählen. Die wählen aus, um ihr Personal zu entlasten, um ihre Einrichtung zu schützen und da fallen Menschen mit schwerer Pflegebedürftigkeit immer häufiger durchs Raster“. Auch die Bochumer Altersforscherin, Tanja Segmüller, von der Hochschule für Gesundheit, spricht von Pflege-Triage, weil: „Menschen, die den geringsten Pflegebedarf haben, die größte Chance haben, in einem Heim einen Platz zu bekommen.“ Diejenigen, die am dringendsten Pflege benötigen würden, blieben auf der Strecke.
Krankenhäuser bekommen viele Patienten nicht mehr vermittelt
Die Konsequenz: Obwohl keine medizinische Notwendigkeit mehr besteht, belegen viele ältere Patienten bundesweit Betten in Krankenhäusern. Für sie kann oftmals nicht rechtzeitig eine Anschluss-Versorgung gefunden werden. Das hat eine nicht-repräsentative „Report Mainz“-Umfrage bei allen deutschen Krankenhäusern ergeben. Von den 330 antwortenden Kliniken haben fast 88 Prozent bestätigt: Patienten mussten in den vergangenen 12 Monaten länger als zehn Tage über die medizinische Notwendigkeit hinaus in Kliniken bleiben.
Pflegeheime nehmen schwierige Krankenhauspatienten nicht auf
Das liegt auch daran, dass viele Pflegeheime schwierige Patienten gar nicht mehr aufnehmen. In der Pro Seniore Einrichtung in Cochem an der Mosel könnte Residenzdirektorin Margarete Vehrs zwar weitere Bewohner unterbringen, ihr fehle aber das Personal, um diese zu versorgen. Sie müsse, erzählt sie im „Report Mainz“-Interview, „ein gutes Gleichgewicht finden, damit die Mitarbeiter nicht überlastet sind, aber auch die Bewohner gut versorgt sind“. Deshalb dürften derzeit nur Bewohner kommen, die wenig Arbeit machen. „Ich schaue nach, welcher Bewohner am wenigsten aufwändig ist, maximal Pflegegrad 2 – schwierige Bewohner oder bei Pflegegrad 4: momentan keine Aufnahme“, so Vehrs. Auf die Frage, ob sie von Pflege-Triage reden würde, antwortet sie im Interview: „Das ist eine gute Frage. Das ist knallhart ausgedrückt. Aber es kommt dem nicht wenig nah.“
Reaktion von Politik und Pflegeverbänden
Der rheinland-pfälzische Sozialminister, Alexander Schweitzer (SPD) sagte gegenüber „Report Mainz“ zum Thema Pflege-Triage: „Ich würde dieses Wort nicht benutzen. Weil ich einfach nicht sehe, dass wir, mit Blick auf die tatsächliche Situation, insgesamt schon in der Situation sind. Aber das Thema Fachkräfte drückt da natürlich und das Thema Fachkräfte ist der Grund, warum Pflegeeinrichtungen sagen, wir müssen schauen, wen wir aufnehmen können und können wir noch jemanden aufnehmen.“
Bundesgesundheitsminister Lauterbach äußert sich auf Anfrage von „Report Mainz“ zum Thema Pflege-Triage gar nicht.
Der Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste, bpa, Bernd Meurer, sagte im Interview mit dem ARD-Politikmagazin: „Wenn Pflegeheime Patienten aus den Krankenhäusern nicht aufnehmen können, weil ihnen das Personal fehlt. Wenn ambulante Dienste verzweifelte Hilferufe aus dem häuslichen Bereich von Familien einfach nicht anhören können und nicht abhelfen können, dann kann ich verstehen, dass man hier auch das Gefühl hat, es gibt eine Triage.“
Situation hat Auswirkungen auf Notaufnahmen der Krankenhäuser
Derweil wird die Situation immer bedrohlicher. Sie betreffe mittlerweile uns alle, sagt der Sprecher des Agaplesion Bethesda Krankenhauses Hamburg-Bergedorf, Matthias Gerwien. „Um ihre Notaufnahme ordnungsgemäß betreiben zu können brauchen sie eine gewisse Anzahl von freien Betten im Haus, weil sie ja nie wissen können, welcher Patient kommt rein und benötigt eine stationäre Aufnahme. Und wenn sie dann bis zu zehn Prozent ihrer Betten nicht frei bekommen können, weil die Patienten nicht wegvermittelt werden können, dann haben wir da ein Riesenproblem. Wir müssen in solchen Situationen die Notaufnahme vorübergehend schließen“, so Gerwien. Auf Nachfrage von „Report Mainz“, wie oft das im vergangenen Jahr passiert sei, antwortete er: „Da hab ich keine Zahl direkt vorliegen, aber das kommt schon monatlich vor.“
Foto: Fritz Frey moderiert das investigative Politmagazin „Report Mainz“. © SWR