Die Zahl der Beschwerden ĂŒber untergeschobene VertrĂ€ge ist in Deutschland seit Beginn der Energiekrise stark gestiegen. Das zeigen Recherchen des ARD-Politikmagazins „Report Mainz“. Demnach habe sich deren Zahl bei der Verbraucherzentrale Bundesverband seit Jahresbeginn mit 2.700 Beschwerden fast verdreifacht. AuĂerdem kam es bereits zu 10.000 Beschwerden ĂŒber unerlaubte Werbeanrufe zu Energieversorgungsprodukten bei der Bundesnetzagentur.
Dubiose Strom- und Gasanbieter nutzen offenbar die Angst vieler Menschen vor höheren Preisen aus, um ihnen am Telefon EnergieliefervertrĂ€ge unterzuschieben. Personen geben zum Beispiel vor, Mitarbeiter des Energieunternehmens zu sein, bei dem der Betroffene Kunde ist. Ihr Ziel: an ZĂ€hlerstĂ€nde und ZĂ€hlernummern zu kommen. Damit melden sie den Betroffenen ohne sein EinverstĂ€ndnis beim alten Versorger ab und schieben ihm teurere VertrĂ€ge bei einem völlig anderen Unternehmen unter. Eigentlich sollte das seit einem Jahr durch die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes nicht mehr möglich sein. Auf Nachfrage von „Report Mainz“ teilt die Bundesnetzagentur mit, in Folge der „jĂŒngst stark gestiegenen Energiepreise“ sei ein „ĂŒberproportionaler Anstieg bei den Beschwerden ĂŒber unerlaubte Werbeanrufe zu Energieversorgungsprodukten zu verzeichnen“. Bis Ende August dieses Jahres seien in diesem Zusammenhang etwa 10.000 schriftliche Beschwerden bei der Bundesnetzagentur eingegangen.
Verbotene „Cold Calls“ gibt es weiterhin
Werbeanrufe ohne ausdrĂŒckliche Zustimmung des Angerufenen, sogenannte „Cold Calls“, sind seit Jahren verboten. Weil sie trotzdem stattfinden und Betroffenen im Rahmen des GesprĂ€chs hĂ€ufig unwissentlich EnergieliefervertrĂ€ge untergeschoben wurden, hat der Gesetzgeber vergangenes Jahr nachgebessert. Seitdem dĂŒrfen EnergieliefervertrĂ€ge am Telefon nur noch in „Textform“ abgeschlossen werden. So sieht es das Energiewirtschaftsgesetz vor.
Unwissentliche BestÀtigung der VertrÀge durch SMS
Recherchen von „Report Mainz“ zeigen nun, wie dubiose Vermittler von EnergieliefervertrĂ€gen sich diese Regelung zunutze machen. Reporterinnen des ARD-Politikmagazins sprachen mit zahlreichen Betroffenen aus ganz Deutschland, die trotz der neuen Gesetzeslage unwissentlich EnergievertrĂ€ge abschlossen. Den Schilderungen der Betroffenen zufolge erweckten die Anrufer zu Beginn des Telefonats hĂ€ufig den Anschein, im Auftrag der örtlichen Stadtwerke oder eines Vergleichsportals anzurufen. Im Laufe des GesprĂ€chs wurden die Angerufenen aufgefordert, eine wĂ€hrend des Telefonats erhaltene SMS unmittelbar mit „Ja“ und dem eigenen Namen zu beantworten. WĂ€hrend viele von ihnen davon ausgingen, hierbei lediglich dem Zusenden eines Angebots zuzustimmen, schlossen sie auf diese Weise einen Vertrag bei einem neuen Energieanbieter ab.
Dreistes Vorgehen dokumentiert per zugespieltem Mitschnitt
In einem fast halbstĂŒndigen Mitschnitt eines solchen Telefonats, der „Report Mainz“ zugespielt wurde, ist zu hören, wie gravierend ein Verbraucher von der Vermittlerin eines Energieliefervertrags getĂ€uscht wird. So sagt die Frau in dem Telefonat: „Sie bekommen die Unterlagen erstmal nach Hause geschickt, damit Sie das erstmal prĂŒfen. Das ist nur alles die Vorbereitung.“ Der Angerufene betont mehrfach, er wolle auf keinen Fall einen Vertrag am Telefon abschlieĂen. Unwissentlich hat der Angerufene wĂ€hrend dieses Telefonats per SMS zwei EnergieliefervertrĂ€ge fĂŒr Gas und Strom abgeschlossen.
Experten: Nachbesserung des Energiewirtschaftsgesetzes nötig
Rechtsanwalt Marc Nörig kritisiert das Gesetz gegenĂŒber dem ARD-Politikmagazin. Er verhandelt mehrere solcher FĂ€lle vor Gericht. „Ich finde es dreist, wie diese Energieunternehmen vorgehen. Es soll verhindert werden, dass der Kunde wĂ€hrend des Telefonats da in irgendeiner Weise ĂŒberrumpelt wird, sondern sich Gedanken machen kann, ob er tatsĂ€chlich diesen Vertrag so schlieĂen möchte“, sagt Nörig. Ăhnlich sieht es auch Felix Methmann von der Verbraucherzentrale Bundesverband: „Wichtig ist, dass jetzt da nachgeschĂ€rft wird, wo die Probleme bestehen. Und die bestehen eben darin, dass viele Verbraucherinnen und Verbraucher einen Vertrag haben, den sie nicht haben wollen. Es darf nicht möglich sein, VertrĂ€ge per SMS zu schlieĂen.“ „Report Mainz“ sprach zudem mit Betroffenen von untergeschobenen EnergieliefervertrĂ€gen, die wĂ€hrend des Anrufs keine BestĂ€tigung per SMS oder Mail zurĂŒckschickten und trotzdem neue EnergieliefervertrĂ€ge erhielten. In einem Fall stellte sich heraus, dass die Unterschrift der Betroffenen unter einem vermeintlichen Vertrag nachweislich gefĂ€lscht wurde. Das Unternehmen fordert dennoch weiter Geld von der 86-JĂ€hrigen. In einem anderen Fall erhielt die Verbraucherin kurze Zeit nach Abschluss des Vertrags eine deutliche Preiserhöhung. Ihr Widerspruch wurde ignoriert.
Bundesnetzagentur: an gesetzliche Rahmenbedingungen gebunden
Die Bundesverbraucherzentrale bemĂ€ngelt, dass seit Jahren eine Handvoll Unternehmen durch derart dubiose GeschĂ€ftspraktiken auffalle. Der Bundesnetzagentur seien diese auch bekannt. Doch es passiere viel zu wenig. Die Unternehmen mĂŒssten viel schneller geahndet werden. „Da mĂŒssen schon ein paar 100 Beschwerden reichen ĂŒber die gleiche Firma und ĂŒber das gleiche Problem, dass dann schon reagiert wird“, so Methmann. Die Bundesnetzagentur entgegnet „Report Mainz“ gegenĂŒber, sie sei an gesetzliche Rahmenbedingungen gebunden. Aus einer Stellungnahme von 2019 geht hervor, dass auch sie schĂ€rfer gegen die Unternehmen vorgehen möchte. Damals hatte sie vorgeschlagen, sich bei der Festsetzung von BuĂgeldern „an den wirtschaftlichen VerhĂ€ltnissen“ der Unternehmen orientieren zu dĂŒrfen. Der aktuelle Höchstsatz von 300.000 Euro stelle „gerade bei leistungsfĂ€higen Unternehmen keine spĂŒrbare Sanktion dar.“ Allerdings sei, „im Gesetz etwas anderes verankert worden. Wir arbeiten mit den rechtlichen Möglichkeiten, die wir zur VerfĂŒgung haben. Das tun wir. Und alles Weitere habe ich heute an dieser Stelle nicht zu kommentieren,“ so der Pressesprecher der Bundesnetzagentur, Fiete Wulff. Das Bundesjustizministerium, welches fĂŒr die Novellierung des Gesetzes zustĂ€ndig war, hat bislang auf Fragen des ARD-Politikmagazins nicht geantwortet.
HintergrĂŒnde und einen ausfĂŒhrlichen Bericht sendet Das Erste am heutigen Dienstag, 13. September 2022, um 21:45 Uhr in „Report Mainz“.
Foto: Fritz Frey moderiert das investigative Politmagazin âReport Mainzâ. © SWR