Welchen Einfluss hatte die Corona-Pandemie auf das Verhalten und die Versorgung von Krebspatient:innen? Darüber hat PHARMA FAKTEN mit Dr. Burkhard Matthes gesprochen, der als onkologischer Facharzt im medizinischen Versorgungszentrum Havelhöhe bei Berlin arbeitet. Er ist davon überzeugt: COVID-19 hatte für Menschen mit Krebs viele negative Auswirkungen – aber auch eine positive.
Herr Dr. Matthes, wie hat sich die Krebsversorgung im Laufe der Coronapandemie verändert?
Dr. Burkhard Matthes: Im ersten Jahr ist in unserem onkologischen Zentrum die Zahl der frühen Karzinome deutlich gesunken. Wir haben ein Brustkrebs-, ein Lungenkrebs- und ein Darmkrebszentrum. Und insbesondere im Darmkrebszentrum gingen die Behandlungszahlen deutlich zurück.
Ist das eine gute Nachricht?
Matthes: Keineswegs. Denn inzwischen verzeichnen wir eine deutliche Zunahme von fortgeschrittenen Karzinomen. Das legt den Verdacht nahe, dass viele Menschen zumindest im ersten Pandemiejahr die Krebsvorsorge hinausgeschoben haben. Ich weiß auch von Patienten, die nicht zum Arzt gegangen sind, obwohl sie Schmerzen hatten – was ja durchaus ernst zu nehmende Alarmsymptome des Organismus sind. In letzter Zeit haben sich dann vermehrt Patienten bei uns vorgestellt, die bereits Lebermetastasen hatten und deswegen nicht mehr operiert werden konnten.
Die Coronapandemie hat also indirekt auch den Krebspatient:innen geschadet?
Matthes: Das stimmt leider. Und das ist auch deswegen tragisch, weil deutlich mehr Menschen an Krebs sterben als an Infektionskrankheiten wie Corona. Ungefähr ein Drittel der Todesfälle entfällt auf Herzkreislauf-Erkrankungen, ein weiteres Drittel auf Krebserkrankungen – die Infektionserkrankungen kommen erst weit dahinter. Wenn die Krebsdiagnostik vernachlässigt wird, dann führt das zu einer deutlich steigenden Zahl an Todesfällen – das wurde im ersten Coronajahr 2020 leider völlig übersehen.
Wie lässt sich das belegen?
Matthes: Nehmen wir das Kolonkarzinom, also Dickdarmkrebs. Dort entsprachen die Fallzahlen, die wir und viele andere Krebszentren im Jahr 2020 an die Deutsche Krebsgesellschaft gemeldet haben, überhaupt nicht mehr den Sollzahlen, also den erwarteten Zahlen. Deswegen wurden die Sollzahlen für 2020 einfach ausgesetzt. Aber das war ein klares Zeichen dafür, dass es deutlich weniger Untersuchungen gab und deshalb auch viel weniger Krebsfälle aufgedeckt wurden. Viele Onkologen haben Alarm geschlagen, aber bis damit ein politisches Ohr erreicht wurde, war das Jahr schon vorbei.
Wie sieht es heute aus? Gehen inzwischen wieder mehr Menschen zur Krebsvorsorge?
Matthes: Ja, die Zahlen normalisieren sich. Aber so weit ich das überblicke, gibt es große regionale Unterschiede.
Inwiefern?
Matthes: In den Regionen, in denen immer schon wenige Menschen zur Krebsvorsorge gingen, sind die Zahlen nach wie vor extrem niedrig – das gilt vor allem für den Osten Deutschlands. Einige Gastroenterologen haben dort im ersten Pandemiejahr keine Vorsorgeuntersuchungen mehr gemacht, sondern nur noch klinische Untersuchungen, zu denen sie von Kollegen gebeten wurden. Inzwischen bieten sie auch wieder Vorsorge-Untersuchungen an, aber die Patienten kommen nicht.
In anderen Regionen müssen die Menschen allerdings sehr lange warten, bis sie einen fachärztlichen Termin bekommen, auch zur Krebsvorsorge.
Matthes: Die regionalen Unterschiede haben sich seit dem Beginn der Pandemie weiter verstärkt. Im Westen von Berlin und im Havelland ist es kein Problem, Termine zu bekommen. In Teilen von Nordrhein-Westfalen und Bayern dagegen können oft weniger Termine angeboten werden als nachgefragt werden.
Ihr Kollege Bernhard Wörmann, Krebsarzt an der Charité, hat kürzlich in einem Handelsblatt-Artikel bemängelt, dass es seit Pandemie-Beginn in Deutschland keine funktionierende Datenerhebung zur Versorgung von Krebspatient:innen in der SARS-CoV-2-Pandemie gibt. Sehen Sie das genauso?
Matthes: Absolut. Wir wissen immer nur sehr verzögert darüber Bescheid, wie viele neue Diagnosen gestellt werden.
Aber es gibt doch Krebsregister.
Matthes: Im Prinzip schon. Diese Krebsregister sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, die oft wie eine Behörde arbeiten. Konkret: Das Krebsregister, das wir hier in Berlin und Brandenburg haben, hat jahrelang notwendige Zahlungen nicht durchgeführt.
Welche Zahlungen?
Matthes: Jede Meldung für das Krebsregister muss vorbereitet und erstellt werden. Das ist für die Ärzte in ihrer normalen Arbeitszeit nicht zu schaffen und sie müssen deswegen extra Personal für die Dokumentation einstellen. Das kostet. Wenn das aber nicht refinanziert, also pünktlich bezahlt wird, dann hören viele Ärzte damit auf. Das passiert vor allem bei niedergelassenen Ärzten, bei denen eine Stelle mehr oder weniger eine große Rolle spielt. Größere Einheiten wie die Charité haben natürlich eine größere Toleranz.
Wie oft mussten im Zuge der Coronapandemie operative Eingriffe bei Krebspatient:innen verschoben werden?
Matthes: Also bei uns und auch in anderen Häusern im Großraum Berlin wurden notwendige Operationen immer zeitnah ausgeführt. Solche Verhältnisse wie in den USA, wo es zu über 12 Wochen Verzögerung kam, kann ich aus dem Umfeld, das ich überblicke, nicht berichten – jedenfalls nicht für medizinisch notwendige Krebsoperationen. Was tatsächlich verschoben wurde, sind andere Eingriffe, wie etwa das Einsetzen orthopädischer Transplantate. Es gibt aber tatsächlich ein Problem, das sich seit dem Beginn der Pandemie deutlich verschärft hat.
Welches?
Matthes: Der Mangel an Fachkräften, insbesondere im Pflegebereich. Vor allem auf den Intensivstationen wurden die Mitarbeitenden in den letzten beiden Jahren extrem verschlissen. Deshalb hat inzwischen fast jedes Krankenhaus in Deutschland mit einer Kündigungswelle zu tun, die politisch nicht aufgehalten wurde. Es gab große Versprechen, aber keines davon wurde auch nur ansatzweise gehalten.
Sie meinen höhere Gehälter, mehr Personal?
Matthes: Kein Mitarbeiter in der Pflege hat sich in erster Linie mehr Gehalt gewünscht, obwohl sich natürlich jeder über mehr Geld freut. Aber eine viel größere Rolle spielt die Arbeitsüberlastung auf den Stationen. Und als wäre das nicht genug, kommt noch ein weiteres Problem hinzu: Die letzte Bundesregierung hat nämlich die Ausbildung verändert. Altenpflege und Krankenpflege wurden zu einer gemeinsamen Ausbildung zusammengelegt. Dieses Konzept ist gescheitert. Denn inzwischen müssen wir feststellen, dass die Jugendlichen, die diesen gemeinsamen Ausbildungsgang begonnen haben, zu über zwei Dritteln während der Ausbildung gekündigt haben.
Woran liegt das?
Matthes: Daran, dass die jungen Menschen in Bereichen arbeiten müssen, in die sie gar nicht wollten. Früher konnte sich jemand im Altenpflegeheim bewerben und hat dort die Ausbildung bekommen, dazu eine medizinische Schulung, die zweimal pro Woche stattfand. Künftige Intensivpfleger haben auf der Intensivstation gearbeitet. Das ist auch heute noch so, aber schon nach 12 Wochen müssen sie rotieren und in die Altenpflege gehen. Danach folgt die ambulante Pflege – und spätestens dann kündigen die Nachwuchskräfte, weil sie sagen, das will ich gar nicht. Deshalb sehen wir heute einen Ausbildungsschwund, wie es ihn nie zuvor gegeben hat.
Wie wird sich Long Covid auf die Versorgung von Krebspatient:innen auswirken?
Matthes: Die Krebsdiagnose kennt schon seit Jahrzehnten das so genannte Cancer Fatigue Syndrom. Aber das spielte in der medizinischen Versorgung bisher kaum eine Rolle, es fiel einfach unter den Tisch. Diese chronische Müdigkeit ist aber für viele Krebspatienten sehr belastend. Durch Long Covid rückt sie jetzt in den Fokus und wir versuchen in der Medizin, zu verstehen, was da eigentlich vor sich geht. Insofern ist das Auftreten von Long Covid medizinisch-wissenschaftlich ein Glück für viele Krebspatienten, weil wir uns nun um dieses Symptom kümmern und es mehr beforschen.
Was wünschen Sie sich von der Politik, um die Versorgung von Krebspatient:innen im dritten Jahre der Corona-Pandemie so gut wie möglich zu gestalten?
Matthes: Vier Dinge. Zuerst würde ich als Gesundheitsminister eine deutschlandweite Pflegekammer schaffen – um einen Überblick zu bekommen, wie viele Pflegende es überhaupt gibt. Und weil diese Institution sich um die Belange der Pflegenden kümmern kann. Zweitens: Ich würde mehr Stellen schaffen anstatt am Personal in den Kliniken zu sparen. Es muss also eine Personalmindestmenge geben, die wiederum im Personalbemessungsschlüssel formuliert ist. Drittens: Ich würde noch mal ganz intensiv auf die Pflegeausbildung schauen und versuchen, Fehler aus der Vergangenheit auszubügeln. Es gab ja ein ganz gutes System, es gab eine Pflegeausbildung an Krankenpflegeschulen – die wurden aber gestrichen, es gibt jetzt keine Krankenpflegeschulen der alten Couleur und Struktur mehr. Aber noch gibt es die Leute, die dort unterrichtet haben. Die müssten wir reaktivieren, bevor sie das System verlassen und ihr Wissen verloren geht. Und viertens: Wir werden in den Kliniken gerade mit Prüfungen durch die Krankenkassen überzogen. Natürlich darf es Stichproben geben oder Prüfungen, die einen konkreten Anlass haben. Aber man sollte den Kassen nicht erlauben, mit der Gießkanne über die Häuser zu gehen und alles zu prüfen, wo sich vielleicht irgendwie Geld einsparen lässt. Denn wenn man sich nur darauf konzentriert, Kosten zu vermeiden, dann schafft das Probleme für die Patienten.
Foto: Dr. Burkhard Matthes, onkologischer Facharzt. © Barbara Dietl für Havelhöhe