Es war die Hoffnung im Kampf gegen den Fachkräftemängel: Im August 2012 wurde EU-weit die Blue Card mit dem Ziel eingeführt, hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland anwerben zu können. Doch nach zehn Jahren Praxistest fällt die Bilanz des modernisierten Einwanderungsgesetzes zumindest beim deutschen Mittelstand ernüchternd aus. „Was eigentlich die deutsche Wirtschaft unterstützen sollte, erweist sich bei näherem Hinschauen leider als Flop“, erklärt Markus Jerger (Foto), Vorsitzender des Bundesverbandes Der Mittelstand. BVMW. Gerade einmal 70.000 Fachkräfte arbeiteten Ende 2021 dank der Blue Card in Deutschland. „Das Gesetz und der dahinterliegende Einwanderungsprozess funktionieren einfach nicht. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist es immer noch mehr als umständlich, Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen.“
Dabei gehen Deutschland inzwischen nicht nur die Fachkräfte, sondern auch generell die Arbeitskräfte aus: Zum Mangel an qualifizierten Arbeitnehmenden gesellt sich immer stärker ein Bedarf an Arbeitskräften aus praktisch allen Berufen und allen Qualifikationsebenen. „Noch nie ist dieser Mangel an Personal so spürbar gewesen wie jetzt“, betont Jerger angesichts von 1,7 Millionen offenen Stellen, die in Deutschland im Moment ausgeschrieben sind. Seit Jahrzehnten habe es die Politik versäumt, eine konsequente Fachkräftestrategie aufzubauen, um den Arbeitskräftebedarf zu sichern, die die deutsche Wirtschaft zum Erhalt ihrer Leistungsfähigkeit dringend braucht, so der Verbandschef: „Nach über zwei Jahren Pandemiebewältigung, die die Lage zusätzlich verschärft hat, sieht mittlerweile über die Hälfte der Unternehmen im Arbeitskräftemangel ein erhebliches Geschäftsrisiko.“
Der Mittelstandsverband fordert den Gesetzgeber daher auf, Konsequenzen aus der schleppenden Entwicklung und den mangelnden Effekten zu ziehen und die im Gesetz formulierten Anforderungen schnellstens zu vereinfachen. „Konnten wir in den vergangenen Jahren noch auf die Einwanderung aus dem EU-Raum vertrauen, brauchen wir nun dringend eine aktivere Einwanderung aus Dritt-Staaten“, erläutert Jerger. Nach übereinstimmenden Berechnungen werden insgesamt jährlich bis zu 400.000 Zuwanderer gebraucht, um in Anbetracht des demografischen Wandels den Arbeitsmarkt stabil zu halten. Jerger: „Mit dem Einwanderungsgesetz in der aktuellen Form wird das niemals zu schaffen sein.“
Ein wichtiger Meilenstein zur weiteren Öffnung des Arbeitsmarktes für ausländische Bewerber war bereits die Abschaffung der Vorrangprüfung sowie das Streichen der Beschränkung auf Engpassberufe oder Mangelberufe. „Nun muss auch der Prozess der Anerkennung von im Ausland erworbenen akademischen und vor allem beruflichen Abschlüssen vereinfacht werden“, so der BVMW-Chef weiter: „Das deutsche duale Ausbildungssystem ist europaweit und international einzigartig – was gut und wichtig ist. Aber in diesem Fall ist es den ausländischen Bewerbenden teilweise unmöglich, einen gleichwertigen Abschluss vorzulegen.“ Die schwierige Anerkennung der erworbenen Abschlüsse mache eine Einwanderung nach Deutschland im Grunde für jede ausländische Bewerberin bzw. jeden ausländischen Bewerber uninteressant.
Aber auch für die Wirtschaft müssen die Anforderungen des Einwanderungsgesetzes abgeschmolzen werden, damit sich eine Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte rentiert: „Aktuell ist ein Hochschulabschluss sowie ein konkretes Arbeitsplatzangebot mit einem Bruttojahresgehalt von mindestens 56.400 Euro Voraussetzung für den Erhalt der Blue Card“, berichtet Jerger. „Für kleine und mittlere Unternehmen, die auch einfache Arbeitsbereiche besetzen wollen, ist das nicht zu bezahlen. Das hören wir von unseren Mitgliedsunternehmen immer wieder. Dieses Gehaltsniveau hilft zudem auch nicht, Stellen im Dienstleistungsgewerbe oder im Handwerk zu besetzen.“ Der Verbandsvorsitzende spricht sich zudem dagegen aus, fehlende Deutschkenntnisse als Hinderungsgrund für die Ausstellung der Blue Card aufzuführen: „Es kommt vorrangig auf die fachspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten an, Sprachkurse könnten auch parallel zur Einarbeitung erfolgen.“
Ferner erwartet der deutsche Mittelstand, dass sich Deutschland im Ausland bei der Anwerbung von Arbeitskräften professioneller aufstellt: „Wir brauchen funktionierende Auslandsvertretungen, Visastellen und Ausländerbehörden mit einfachen, schlichten und vor allem schnellen Verfahren. Wir brauchen aber auch mehr Ausländerbehörden mit englischsprachiges Personal in Deutschland selbst, um die Fachkräfteverfahren überhaupt beschleunigen zu können“, betont Jerger. „Wenn sich Deutschland nicht endlich als attraktives Einwanderungsland positioniert und weiterhin stur an langwierigen und undurchschaubaren Prozessen festhält, dann wird nicht nur die mittelständische Wirtschaft darunter leiden. Die Zukunft des ganzen Wirtschaftsstandortes wird sehenden Auges aufs Spiel gesetzt. Das gilt es unter allen Umständen zu vermeiden.“
Text/Foto BVMW